Vom “Volk” zur “Bevölkerung”

Ein partizipatives Kunstprojekt im Deutschen Bundestag


von Michael Scheier

Das Titelbild der aktuellen Lerncafe-Ausgabe zeigt eine Installation des Konzeptkünstlers Hans Haacke, die dieser im September des Jahres 2000 im nördlichen Lichthof des ehemaligen Reichstagsgebäude eingerichtet hat. Die Installation besteht aus einem von Holzbohlen eingefassten und mit weißen Neonlichtbuchstaben versehenen Beet, aus dem die Worte DER BEVÖLKERUNG nach oben strahlen.


Die Realisierung dieses Kunstprojekts wurde vom Bundestag beschlossen. Der Entwurf stieß zunächst auf breite Ablehnung, wurde jedoch schließlich – mit einer einzigen Stimme Mehrheit – auf den Weg gebracht.

Die Installation ist vom Künstler als ein Partizipationsprojekt konzipiert. Gemäß den Informationen auf der Projekt-Webseite sind “alle Bundestagsabgeordneten eingeladen, aus ihrem Wahlkreis … Erde nach Berlin zu bringen und um die Widmung DER BEVÖLKERUNG auszustreuen. Das im Laufe der Zeit frei wachsende Biotop soll unangetastet bleiben. Eine mit dieser Webseite verbundene Webcam liefert zwei Mal täglich ein aktuelles Bild des Innenhofes.

Das Kunstwerk umfasst jedoch nicht nur das eingefasste Beet mit den Leuchtbuchstaben, und das Projekt ist auch nicht mit der Tätigkeit unserer Abgeordneten vollendet, von denen inzwischen trotz der anfänglichen Vorbehalte schon über 400 ihr Scherflein Erde beigetragen haben. Das Konzept des Künstlers weist, wie auf der oben verlinkten Internetseite nachzulesen ist, in seinen verschiedenen Bezügen weit darüber hinaus. Die Widmung des Beetes: “Der Bevölkerung” interagiert dabei sowohl inhaltlich als auch formal mit der Inschrift “Dem Deutschen Volke” am westlichen Portalgiebel des 1894 eingeweihten Reichstagsgebäudes.

Portalgiebel über Portikus des ehem. Reichtagsgebäudes (Foto Wolfgang Pehlemann Wiesbaden 2009)


Dieses Gebäude hat über 130 Jahre wechselvoller deutscher Geschichte erlebt. Dazu zählt auch die Abschaffung der ersten demokratischen Staatsform Deutschlands, der Weimarer Republik. In der Folge etablierten die Nationalsozialisten eine willkürliche Definition der Mitglieder des Volkes, was wiederum den Terror der sogenannten “Volksgemeinschaft” gegen diejenigen zur Folge hatte, die als “Volksschädlinge” klassifiziert wurden. Das Ende ist bekannt – der Völkermord an entsprechend bezeichneten Menschengruppen im Holocaust und Porajmos. In der Konsequenz hat der Terminus “Volk” seine Unschuld verloren. Dies wird durch die Installation von Hans Haacke deutlich, die in ihren Bezügen auf das scheinbar Selbstverständliche der Inschrift am Portalgiebel des Reichstags Fragen stellt.

Die Bundesrepublik Deutschland ist heute ein demokratisch verfasstes Land. Auch wenn im parlamentarischen Alltag die Mehrheit entscheidet, ist es ihr nicht gestattet, sich über den Minderheitenschutz hinwegzusetzen. Trotz der Tatsache, dass die Bundesrepublik Deutschland inzwischen eine Einwanderungsgesellschaft darstellt und zahlreiche Migranten die deutsche Staatsbürgerschaft erworben haben, hat sich bis heute die Vorstellung einer tonangebenden kulturellen Identität erhalten. Und obwohl das sog. “racial profiling” verboten ist, kommt es bei Polizeikontrollen immer noch zu einer Selektion von entsprechenden Personenkreisen, zum Beispiel anhand ihrer Hautfarbe. Das kürzlich erlassene “Selbstbestimmungsgesetz”, das die Bestimmung und Änderung des Vornamens sowie des Geschlechtseintrags neu regelt, wird in manchen Zirkeln als “Genderwahn” abgetan: Aber auch dieses Gesetz gehört zum Minderheitenschutz, in diesem Fall von Menschen, die ihre Geschlechtsidentität anders als die Mehrheit empfinden (in offiziellen Dokumenten gibt es hierfür inzwischen zusätzlich zu den Kürzeln “m” für männlich und “w” für weiblich das “d” für “divers“).

So sah die Installation am 13.06.2024 aus (Foto: Singlespeedfahrer gemeinfrei)

Minderheiten stellen einen integralen Bestandteil unserer Bevölkerung dar, ihr Schutz gehört zu unserer Demokratie (1). Ohne eine institutionelle Absicherung dieser Minderheiten ist die Existenz unserer Demokratie gefährdet. In den sich verbreitenden illiberalen Demokratien wie zum Beispiel in Ungarn häufen sich die Angriffe auf Minderheiten. Sie können in Verboten bestehen, eigene Sprachen oder Dialekte zu sprechen und kulturelle Eigenheiten zu pflegen, haben aber in der Geschichte auch immer wieder zu Akten von Vertreibung und Vernichtung geführt. Das partizipative Kunstprojekt am Sitz des Deutschen Bundestags regt vielleicht an, zu reflektieren, was die demokratische Verfasstheit unserer Gesellschaft für uns bedeutet. Und wie es weitergehen kann – wie wir uns die Gestaltung unseres Zusammenlebens und des Umgangs miteinander in der Zukunft vorstellen.