von Angelika Oppermann
Ein renommierter Soziologe legt eine Analyse unserer modernen Gesellschaft vor und kommt zu dem Ergebnis, das sich schon aus dem Titel des kleinen Büchleins ergibt. Eigentlich ein Vortrag aus dem Jahre 2022 über das „eigentümliche Resonanzverhältnis“ zwischen Demokratie und Religion.
Mit einem Vorwort von Gregor Gysi, dem man wohl wirklich keine Neigung zum Transzendenten vorwerfen kann. Was Gregor Gysi als ein Problem der Entfremdung in der zwischenmenschlichen Kommunikation ausmacht, bestätigt auch der Autor Hartmut Rosa: Demokratie ist viel mehr als nur eine Ansammlung von Regeln und Institutionen. Es geht vielmehr um die Inhalte, um die gemeinsamen Wertvorstellungen. Um die Frage, in welchem gesellschaftlichen Klima wir leben wollen.
Hartmut Rosa hat das Phänomen der Resonanz als wesentlichen Faktor für eine gelingende Demokratie, für eine Kommunikation, die dem Allgemeinwohl dient, ausgemacht. So wie Musik nicht wirkt, wenn sie nicht auf ein hörendes Ohr trifft, so braucht auch die Demokratie Resonanzfähigkeit von allen Bürgerinnen und Bürgern. Damit wir nicht verlernen, einander zuzuhören.
Unsere Gesellschaft befindet sich in einem „rasenden Stillstand“, diagnostiziert der Autor, einerseits rast sie immer hektischer, andererseits wirkt sie erstarrt, hat den Sinn für die Bewegung verloren.
Und könnte das nicht daran liegen, dass wir das Gespür für das Anhalten, die Stille, den geschützten Raum verloren haben? Alles Dinge, die in jeder Religion seit Alters her wichtige Bestandteile sind.
„Der rasende Stillstand“: woher kommt diese Überbeschleunigung?
Die Menschheit nutzte ihren Erfindungsgeist stets dazu, um Energie zu sparen, weniger Ressourcen zu verbrauchen, sich Kraft, Zeit und Mühe zu ersparen. Aber irgendwann drehte sich diese eigentlich grundlegende Idee um.
Es wurde das Wirtschaftswachstum erfunden und nun wird immer mehr immer schneller immer sinnloser verbraucht. Und so sind wir jetzt im Anthropozän. Der Planet ist verbraucht und wir halten trotzdem nicht an. Alleine die Digitalisierung, der Ausbau des Cyberspace, verschlingt in rasender Geschwindigkeit immer mehr Energie. Die Ressourcen der Erde, aber auch unsere Aufmerksamkeitsenergie. So diagnostiziert der Autor und auch mir scheint dies als These nicht zu abstrakt. Wie lange verbringen Sie so vor dem Smartphone? Wie viel mehr Lebensmittel, Kleidung, Baumaterialien und vor allem Strom verbrauchen Sie so im Vergleich zu Ihren Vorfahren? Selbst wenn Sie nicht gerade dabei sind, Kryptowährungen zu schürfen…
Der ganz wörtliche Burnout (Brandkatastrophen) der Erde entspricht dem kollektiven Burnout unserer Gesellschaft. Mehr Arbeit, mehr Konsum, mehr Ablenkung, mehr Jagd nach dem Geld, dem Götzen unserer Zeit, den wir anbeten.
Und wozu brauchen wir da die Religionen, hier in Europa überwiegend die christlichen Kirchen?
Demokratie braucht nicht nur die Gleichheit aller Stimmen. Sie braucht auch jemanden, der die Stimmen hört. Nicht nur lauschende Ohren, sondern vielmehr ein hörendes Herz, wie König Salomo es sich von Gott erbat.
Die Kirchen verfügen seit 2000 Jahren über Rituale und Räume, Lieder, Gesten und Traditionen, in denen ein solches hörendes Herz eingeübt wird. Wir brauchen Menschen, die damit aufhören, im Stillstandsmodus herumzurasen und die sich ansprechen und erreichen lassen. Und eben das ist die Resonanz: nicht nur auf das hören, was ich als Bestätigung aus meiner Meinungsblase empfinde, sondern dezidiert gerade so beweglich sein, dass ich auch auf das höre, was mir so fremd erscheint.
Hören und Antworten auf das Gehörte, das führt zu Verbundenheit und dann auch zu einem Gefühl der Selbstwirksamkeit. Wenn ich gesehen werde, wenn ich gehört werde, dann bin ich auch „da“, bin präsent. Dann gelten meine Ansichten und Erkenntnisse etwas in der Welt und ich muss nicht in resignierte Apathie verfallen.
Ich kann selbst tätig werden und meine persönliche Lebensspur in der Gesellschaft hinterlassen, meine Duftmarken setzen, mich aktiv beteiligen. Da muss ich nicht darüber klagen und jammern, dass irgendwelche höheren Mächte der Wirtschaft und der Politik mich angeblich fremdbestimmt durchs Leben schieben würden.
Solche intimen Momente der echten Begegnung tun uns gut, da blühen wir auf, wenn wir uns aussagen dürfen und gehört werden, wenn wir sehen und gesehen werden. „Alles wirkliche Leben ist Begegnung. Wenn wir aufhören, einander zu begegnen, ist es, als hörten wir auf, zu atmen“, hat der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber gesagt.
Ein solches Berührtwerden kann ich nicht planen und nicht „machen“, da muss ich mich auf eine Transformation einlassen, deren Verlauf und Ausgang ich eben gerade nicht vorab bestimmen kann. Da kommt Bewegung in den Stillstand, da bildet sich ein Raum für Neues. Vielleicht für das „Dritte“, das sich im Zwischenraum zwischen zwei Menschen bildet, dasjenige, das so wundersam entsteht und von keinem der beiden Akteure hätte gestaltet werden können, dieses geheimnisvolle berührende Dritte in der Mitte. Vater, Sohn und Heiliger Geist, diese Dreiheit, hier findet sie zwischen Menschen statt. Mutter, Tochter und Heilige Geistkraft drückt die Sache auch aus.
Und wenn diese Begegnungen regelhaft stattfinden zwischen uns Menschen, dann wird die Gesellschaft wieder resonant und beweglich. Demokratisches Miteinander statt Hass und Hetze gegen das Fremde, das mir so Angst macht, das mich so aggressiv macht.
Die christlichen Kirchen bieten solche Gemeinschaft, die den anderen als geliebtes Kind Gottes so gelten lässt, wie er oder sie eben ist. Für alle anderen Religionen dürfte das auch gelten; ich begrenze mich hier auf das, was mir vertraut ist. Gerade im buddhistischen Zen dürfte das Konzept im Begriff des „interbeing“, wie es von Thich Nhat Hanh verbreitet worden ist, beinhaltet sein.
Im Zwischenreich, da braucht es kein Wachstum und kein Herumgerenne. Diese Gemeinschaft ist immer schon da für die, die sich ein geöffnetes Herz bewahren. In einem Kirchenraum gibt es nichts, was von Dir Leistung oder Geschwindigkeit verlangt. Da geht es auch über die nur soziologische Betrachtung der modernen Gesellschaft hinaus.
In einem heiligen Raum der Stille oder der Musik kannst du dich anrühren lassen von dem Weg, der Wahrheit und dem Leben. Da muss ich nicht unruhig von einem esoterischen Angebot zum nächsten rennen und doch nie etwas finden. Das vertikale Resonanzversprechen ist schon 2000 Jahre alt: Du bist kein Zufall in einem kalten Universum.
Nein, das Versprechen ist gültig: Da ist ein Gott, der Dich geschaffen hat, Dich meint, sieht und hört. Ganz besonders im Abendmahl: da feiern Menschen Gemeinschaft miteinander und mit Gott.
Und auch das ist kein Alleinstellungsmerkmal des Christentums: „jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns“, schrieb der bekannte persische Sufi-Mystiker und Dichter Dschalal Ad-Din Rumi (Maulawi) schon im 13. Jahrhundert.
Und damit wieder zurück zu Hartmut Rosa: ein Soziologe mit einem klaren Bekenntnis: Brauchen wir noch Kirche und Religion, um einander wieder besser zu verstehen? Ein klares Ja!