Wir alle brauchen Trost

von Michael Scheier

Lust aufs Leben? Das hat für mich viele Facetten. Es sind nicht nur die euphorischen Momente, bei denen man das Gefühl hat, die ganze Welt umarmen zu können. Sondern ganz allgemein die Freude am Dasein, das Interesse an den Mitmenschen und überhaupt an der ganzen Schöpfung: die Neugier auf die Welt. Das sind wichtige menschliche Fähigkeiten, und diese Fähigkeiten sind nicht selbstverständlich. Sie können durch schwierige Lebensumstände und/oder traumatische Ereignisse beeinträchtigt werden oder auch ganz verloren gehen.

Eine besondere Ressource, die uns befähigt, den Widrigkeiten des Lebens zu trotzen, ist der Trost: In schwierigen Situationen den Mut zu behalten oder auch anderen Menschen Mut machen zu können. Der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald W. Winnicott hat sich mit dem lebensgeschichtlich frühen Beginn der Entwicklung dieser wunderbaren Fähigkeit beschäftigt.

Am Anfang seiner Existenz erlebt sich der Säugling – so Winnicott – grenzenlos verschmolzen mit der Person, die ihm Nahrung und Wärme spendet. Solange es dabei keine Störung gibt, läßt sich wohl in dieser Hinsicht von einem geradezu paradiesischen Zustand sprechen. Winnicott beschreibt, wie es dem Säugling dann – wenn die Beziehung zur Mutterperson verlässlich genug ist (1) – allmählich gelingt, sich peu á peu von ihr zu lösen und immer länger ohne ihre unmittelbare Anwesenheit auszukommen. Anfangs helfen ihm Schnuller und Daumen dabei . Später kommen dann auch Kuscheltier und Schmusedecke ins Spiel. Für diese Gegenstände hat Winnicott den Begriff “Übergangsobjekt” geprägt (2).

Dieses Übergangsobjekt ruft durch seine besonderen Qualitäten – bei Kuscheltier und Schmusedecke zum Beispiel durch ihre Kuscheligkeit und den Geruch vertrauter Nähe – in der Vorstellung des Kindes die Beziehung zur Mutter wach. Damit behält es sozusagen einen Teil der Mutterperson bei sich, auch wenn diese nicht unmittelbar anwesend ist. Die Ängstlichkeit, die die ersten Schritte aus der frühesten Beziehung begleitet, kann auf diese Weise für eine Weile beschwichtigt werden. Das Übergangsobjekt tröstet und macht Mut.

Winnicott nennt es “Übergangsobjekt”, weil es dem Kind ermöglicht, sich allmählich aus der Beziehung zur Mutter zu lösen und damit den Übergang zur nächsten Entwicklungsphase, zu größerer Autonomie, zu vollziehen. Das Übergangsobjekt ist das erste kulturelle Objekt, das wir Menschen in unserer Entwicklung verwenden. Winnicott spricht davon, dass das Kind es “erschafft”. Denn Schnuller, Kuscheltier und Schmusedecke kommen zwar – in der Regel – aus der Fabrik, aber ihre tröstende Bedeutung erhalten sie erst durch die schöpferische Phantasie des Kindes. In seiner weiteren Entwicklung eröffnen sich ihm damit immer neue Möglichkeiten kulturellen Ausdrucks: zum Beispiel Bilder zu malen, Geschichten zu erfinden oder Lieder zu singen.

Das Übergangsobjekt ist der Ausgangspunkt für unsere weitere kulturelle Entwicklung. Seine Bedeutung kommt im Laufe unseres Lebens in all unseren künstlerischen, musikalischen, literarischen und nicht zuletzt auch spirituellen Aktivitäten zum Ausdruck. Diese helfen uns dabei, uns mit den Widrigkeiten des Daseins zu versöhnen und geben uns ein Gefühl der Verbundenheit mit der Welt. Wir können uns damit auch selbst trösten. Und Trost kann immer wieder aufs Neue Lust aufs Leben machen.

(1) “Mutterperson” deswegen, weil auch der Vater oder eine andere Person diese Rolle ausfüllen kann
(2) D.W.Winnicott VOM SPIEL ZUR KREATIVITÄT