von Peter Schallock
Manchmal reicht es schon, Augen und Ohren aufzumachen und für einen Augenblick die täglichen Katastrophenmeldungen zu vergessen. Das Schöne liegt wirklich manchmal so nah – aber oft nehmen wir es gar nicht wahr.
Februar. Früh ist es, gerade mal kurz nach sechs. Der leichte Wind ist sanft, aber kalt, fast schon eisig, Wenigstens ist es trocken. Ich bin auf dem Weg zum Bus, der mich in einer knappen halben Stunde zum Bahnhof bringt. Mein Viertel liegt ein wenig abseits vom Stadtviertel, die Straßen sind noch fast menschenleer. Kein obligatorischer Jogger, kein schläfriges Herrchen begleitet seinen Vierbeiner zum morgendlichen Toilettengang. Zwei müde wirkende Männer stehen an der Bushaltestelle. Abgesehen von höchst spärlichen Verkehrsgeräuschen ist es still, ruhig.
Am Bahnhof ist schon mehr los. Die Pendler, die aus ihren umliegenden Orten in die Stadt eilen, um dort ihrem Tagesgeschäft nachzugehen, die Schüler, das Bahnhofspersonal, ein paar bullig wirkende Männer vom Sicherheitsdienst wuseln umher. Die Fenster der Bahnhofskneipe geben den Blick frei auf Durstige, die schon zu früher Stunde an der Theke sitzen. In der Bahnhofshalle sitzt ein Obdachloser in einer Ecke und wärmt sich auf.
Der frühe Rentner
Mein Zug ist noch relativ leer. Wie jeden Mittwoch bin ich unterwegs in die Nachbarstadt. Seit letztem Jahr bin ich an der dortigen Universität als Gasthörer eingeschrieben. Der Kurs, den ich in diesem Semester belege, beginnt in aller Herrgottsfrühe. Kann man nichts machen. Der frühe Vogel fängt den Wurm. Der frühe Rentner macht eben was für seine Bildung.
Meine wöchentliche Vorlesung steht an – Lernen kann wirklich ein Genuss sein! Nicht nur, weil ich mich jetzt, im Ruhestand, endlich mit den Dingen befassen kann, die mich interessieren. Die mit dem pflichtbetonten Arbeitsleben, das ich hinter mir habe, nichts zu tun haben. Mein kleines Glück, dass ich wiederum dem großen Glück verdanke, früh in Rente gehen zu können. Dafür ging mir zwar eine letzte Beförderung verloren, was so mancher Kollege mit Kopfschütteln kommentierte. Egal, ich war nicht darauf angewiesen. Und Zeit kann man nicht kaufen.
Unterwegs füllt sich der Zug. Schüler steigen zu. Viele im coolen Outfit: Schirmmütze, darüber Kapuze. Hier und da wird gekichert und geplappert, Teenager unter sich. Einige Fahrgäste sind eingenickt, manche starren entrückt auf ihre Telefone.
Die Jungen sind schon da
Ich erscheine eine Viertelstunde zu früh im Hörsaal, aber ein paar Studenten sind schon da, vertieft in die digitale Welt ihrer Laptops. Innerhalb der nächsten Minuten trudeln noch zwei „Ältere“ ein. Insgesamt sind wir drei Gaststudenten. Ein freundliches Nicken, ein kurzes „Wie geht es?“ folgt, wie immer zur kurzen Begrüßung. Ein paar ältere Menschen unter jungen Studenten sind mittlerweile keine Seltenheit mehr. Anfangs fühlte ich mich schon manchmal ein wenig komisch, vielleicht sogar fremd unter den vielen Jungen, die sich hier auf Ihr Leben vorbereiten, so ganz ernsthaft. Bald merkte ich, dass das völlig unbegründet war. Keiner der Jüngeren gab mir je das Gefühl, nicht hierher zu passen. Denke ich an die Kommentare mancher Älterer, die ich zuweilen im Internet lese, und Jugendlichen Bequemlichkeit und „was weiß ich noch“ vorwerfen, fühle ich mich fast beschämt.
Die Vorlesung ist zu Ende, der nächste Teil meines wöchentlichen Rituals folgt. Zufrieden mit mir genieße ich im Café auf dem Universitätsgelände einen Cappuccino und ein knuspriges Croissant. Dann geht es ab nach Hause.
Morgenröte
Ein paar Wochen später: Es ist nicht mehr ganz so dunkel, wenn ich das Haus verlasse. Sanfte Morgenröte erleuchtet den Horizont, Vögel freuen sich bereits über den nahenden Frühling, zwitschern ihre Morgenliedchen. Unterwegs erlebe ich, wie die Sonne dem Tag dabei hilft, allmählich zu sich zu kommen. Manchmal ist die Welt in einen leichten Morgennebel eingehüllt, der allmählich von den Strahlen der Sonne durchdrungen wird. Wann habe ich das letzte Mal die Schönheit der Natur so intensiv wahrgenommen? Der Morgen hat jetzt einen ganz anderen Duft. Es ist auch nicht mehr so kalt. Vielleicht täusche ich mich, aber sind jetzt nicht mehr Menschen unterwegs, als zuletzt?
Es muss sich nicht lohnen
Jüngst fragte mich ein ehemaliger Arbeitskollege, warum ich mir das antue. Jetzt, im Ruhestand, müsste ich mir doch nicht mehr die frühen Stunden um die Ohren schlagen.
Lohnt sich das überhaupt?
Dabei bin ich tatsächlich eher ein Morgenmuffel. Genieße es, mich im Bett nochmal umzudrehen, wenn draußen bereits der Lärm des Tages vernehmbar wird. Oder noch im Bett meinen ersten Kaffee zu genießen, dabei im Radio die Frühnachrichten zu hören.
Nachrichten, die mich erinnern, was in der Welt los ist. Auch am frühen Mittwoch, bevor ich das Haus verlasse. Krieg in der Ukraine. Krieg im Nahen Osten. Extremisten überall auf dem Vormarsch. Ständiger Streit unter Politikern. Überall scheinbar nur noch Unzufriedenheit. Wenig Gutes.
Dann mache ich mich fertig und gehe zum Bus. Ich bin ich draußen. Es ist still. Friedlich.
Doch, es lohnt sich.