“Und sag den Leuten nichts davon!”

von Michael Scheier

Wenn ich an Familie denke, kommt mir noch heute zuerst die klassische Konstellation in den Sinn: Vater, Mutter, Kind. In dieser Reihenfolge. Mit diesem Konzept, mit dieser inneren Vorstellung von Familie, bin ich aufgewachsen.

Meine Familienerfahrung beginnt mit 5 Jahren. Da lernte ich meine Eltern kennen. Sie haben mich adoptiert. Ich habe davon nichts mitbekommen. Für mich waren sie meine richtigen Eltern, an andere Eltern konnte ich mich nicht erinnern.  Es gab von früher keine Fotos und keine Geschichten.

Kurz nach der Adoption zogen meine Eltern mit mir in eine andere Stadt. In der neuen Umgebung wusste niemand mehr, dass wir keine „richtige“ Familie waren. Als ich in die Schule kam, erzählte mir meine Mutter von meiner Herkunft, dass ich nicht ihr leibliches Kind war und aus einem Heim kam. Zum Schluss ermahnte sie mich: „Und sag den Leuten nichts davon!“. “Und dem Vater sagen wir davon auch nichts!”, soll ich daraufhin vorgeschlagen haben. Ich war jedenfalls froh, dass ich einen Vater und eine Mutter ganz für mich alleine hatte. Das war am wichtigsten für mich, das war für mich die Bedeutung von “Familie”.

Als ich 18 wurde, gab mir mein Vater die Adoptionsakten. Den Schriftwechsel mit den Ämtern, Geburtsschein, Geburtsurkunde. Und eine halbe Seite Bericht über mein erstes Leben. In den Akten waren auch zwei Fotos aus meiner Heimzeit. Auch die habe ich mit 18 zum ersten Mal gesehen. Die ersten Bilder von damals.

Ich bin in Berlin zur Welt gekommen – aus den Akten ging hervor, dass das Heim, in dem ich zuletzt lebte, nahe dem Charlottenburger Schlosspark lag.  An einen Park konnte ich mich auch noch erinnern. Auch an ein Tor, das vom Heimgelände in den Park führte. Und an einen Sandkasten. Also fuhr ich nach Berlin. Ich fand im Schlosspark das Tor. Und im Heimgelände den Sandkasten. Meine Erinnerung und die Wirklichkeit trafen sich an diesem Punkt, es stimmte also. Hier war ich als kleiner Junge gewesen. Und ein Bild, das diese Erinnerung belegte, habe ich später auch noch entdeckt.

Ich habe immer mal wieder gesucht in den vergangenen 50 Jahren und dabei noch so manches herausgefunden. Meine leibliche Mutter war mit 17 Jahren ungewollt schwanger geworden. Paragraf 218 in seiner damals gültigen Fassung machte einen Schwangerschaftsabbruch unmöglich. Nur das rechtzeitige Eingehen einer staatlich/kirchlich zertifizierten Verbindung, sprich: Ehe, hätte Mutter und Kind vor Diskriminierung schützen und das ungewollte zu einem „legitimen“ Kind machen können. Aber meine Mutter konnte oder wollte (noch) nicht heiraten. So wurde ich, wie es damals hieß, „unehelich“ geboren. Die Ehe war der gesellschaftliche Standard,  für eine Familie war der Mann unverzichtbar. Da alleinstehenden Müttern vom Staat nicht zugetraut wurde, auf sich gestellt für ihr Kind zu sorgen – und ihnen auch die Mittel dazu vorenthalten wurden ­–, wurde für nicht-eheliche Kinder zwingend ein Amtsvormund bestellt.

Meine leibliche Mutter wollte nie Kontakt mit mir. Aus einem Brief, den sie zwei Monate vor meiner Geburt geschrieben hatte, ging  hervor, dass es zwei Männer gab, die für meine Zeugung in Frage kamen. Die Frau, die mich geboren hat, hat diese beiden Männer mit ihren Vornamen in meiner Namensgebung verewigt. Diese Vornamen gehören zu mir wie mein Rufname, sie stehen für meine uneindeutige Herkunft. Ich mag die beiden Namen gerade deshalb.

Ich habe mich – besonders als Kind und Jugendlicher – oft als Fremder gefühlt. Ich wollte dazugehören und ich gehörte nicht dazu. Die Erfahrung der Unbestimmtheit, woher ich komme, hat mein Denken und Fühlen geprägt. Herkunft ist Zufall. Vielleicht kann ich es deswegen nur schwer ertragen, wenn Menschen wegen ihrer Herkunft ausgegrenzt oder zurückgewiesen werden. Der Andere, der Fremde, das könnte immer auch ich sein.

In meiner Kindheit und Jugend war die Auffassung von Familie noch weitgehend von einem patriarchalen Weltbild geprägt. Die Vorstellung von Familie war in diesem Weltbild wesentlich von der genetischen Abstammung bestimmt, wie sie dann schließlich in der Ideologie der „Volksgemeinschaft“ zur vollen Blüte gelangt ist. Diese herkunftsbesessene Ideologie hatte bei uns in Deutschland schließlich zur Verpflichtung jeder Familie geführt, eine sogenannte Ahnentafel als “Ariernachweis” zu führen. Den NS-Machthabern war damit das ideale Werkzeug an die Hand gegeben, um ganze Bevölkerungsgruppen ausgrenzen und terrorisieren zu können, bis hin zu ihrer Deportation und Vernichtung.

Das patriarchiale Familienbild änderte sich erst mit dem auf die Straße getragenen Protest der sogenannten 68er und der entschlossenen Kampfansage der Frauen: “Mein Bauch gehört mir”. Was vorher allein männlicher Definitionsmacht zustand, wurde endlich hinterfragt: “Familie – was ist das eigentlich? Und wer gehört dazu?”. Die sogenannte Patchwork-Familie war eine der Antworten darauf: „Familie ist, was sich zusammen findet.“ Es gibt nicht die eine richtige Familie, Familie ist ein Thema mit Variationen.

Dabei gibt es auch Variationen , die weiterhin benachteiligt werden. Die diskriminierende Bezeichnung “Fräulein”, wie wir sie aus unserer Kindheit und Jugend noch kennen, ist zwar seit langem abgeschafft. Aber de facto werden alleinstehende Menschen, besonders Frauen, immer noch sozial ausgegrenzt. Zu alleinstehenden Elternteilen heißt es in einer Stellungnahme des Verbandes alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV): Immer mehr Eltern erziehen ihre Kinder alleine, ohne dass sich diese gesellschaftlichen Veränderungen in einer gerechteren Familienpolitik widerspiegeln. Alleinerziehende werden strukturell benachteiligt und sind trotz hoher Erwerbstätigkeit überdurchschnittlich von Armut bedroht.  

Egal, wie sich Familie zusammenfindet, und seien es auch nur die zwei Menschen, die bei der Geburt zum Auf-die-Welt-Kommen und Auf-die-Welt-Bringen gehören, nämlich das Kind und die schwangere Person1: jedes Neugeborene sollte einen Ort vorfinden können, wo es willkommen geheißen wird und wo man um sein Wohl besorgt ist. Diese Ur-Erfahrung von Gemeinschaft so gut es geht zu ermöglichen und fördernd zu begleiten ist für mich eine der wichtigsten Aufgaben unserer Gesellschaft.

  1. “Person” deswegen, weil dieser Mensch, wie durch das kürzlich verabschiedete “Gesetz über den Geschlechtseintrag” endlich besiegelt, auch ein Mann sein kann ↩︎