Meine Herkunft

von Michael Scheier

Neulich habe ich gelesen, die nordrhein-westfälische Heimatbotschafterin Lamya Kaddor habe vorgeschlagen, wir müssten jetzt endlich einmal anfangen, Heimat als Plural zu sehen, wir müssten also eigentlich von Heimaten sprechen. Den Vorschlag finde ich bedenkenswert. Mit zunehmender Globalisierung hat auch unsere Mobilität zugenommen, freiwillig oder gezwungen – und so gibt es heute für viele von uns, anders als in früheren Zeiten, kein über die Zeit stabiles Gefühl mehr, wo Heimat und Zuhause sind. Ich selbst habe diese Erfahrung sehr früh gemacht. Wenn es nach dem Vorschlag von Lamya Kaddor ginge, müsste es im Titel meines Beitrages eigentlich “Meine Herkünfte” heißen. Aber langsam, eins nach dem anderen.

Ich bin 1953 in Westberlin zur Welt gekommen. Meine Mutter war damals noch sehr jung und konnte nicht für mich sorgen. Meine ersten zwei Lebensjahre verbrachte ich daher in einem Kinderheim. Dann kam ich in ihre Familie: Zwischenzeitlich hatte sie sich mit einem anderen Mann als meinem Vater zusammengetan. Mit dem hatte sie noch einen jüngeren Sohn. Mit dem fremden Balg im Haus kam mein Stiefvater nicht zurecht und so ging der Familienversuch schief. Ich kam wieder ins Heim; diesmal in ein anderes als in meinen ersten Jahren. 1958 wurde ich dann adoptiert.

Ich erinnere mich heute noch gut an den Flug von Berlin nach Frankfurt – dort warteten meine künftigen Eltern auf mich. Sie nahmen mich liebevoll auf, und ich integrierte mich auch gut, denn ich war ein braves Kind. Für meine Adoptiveltern war das etwas schwieriger mit der Integration. Besonders meine damals noch recht lebhaften Erinnerungen an meine Heimzeit waren ihnen nicht gerade angenehm, und so wurde mir die Sprachregelung auferlegt, ich sei dort nur zu Besuch gewesen. Kurz nach meiner Einschulung erfuhr ich dann von ihnen, sozusagen offiziell, dass ich nicht ihr leibliches Kind sei. Ich habe diese neue Nachricht sehr pragmatisch aufgenommen – für mich gehörten wir als Familie zusammen. Es war schließlich auch die einzige Familie, die ich kannte.

Als ich 18 wurde, übergaben mir meine Adoptiveltern eine Mappe mit Dokumenten aus meiner Berliner Zeit, also der Zeit, bevor ich zu ihnen kam. Darunter waren – fein säuberlich gelocht und akkurat abgeheftet – zwei Fotografien von mir. Nach diesen Bildern hatten meine Adoptiveltern mich seinerzeit “bestellt”. Außerdem gab es in der Mappe noch etwa eine halbe Schreibmaschinenseite über meine Vor-Adoptivgeschichte: Lebensumstände der Mutter, Name und Beruf des angeblichen Vaters, Entwicklungsstand des Kindes. Sonst nichts, auch nichts darüber, dass ich wohl fast ein ganzes Jahr bei meiner leiblichen Mutter gelebt hatte. Das habe ich erst später herausgefunden.

Mit 19 bin ich dann aus meinem Elternhaus ausgezogen. Jetzt konnte ich daran gehen, nachzuschauen, was vor meinem Elternhaus gewesen war. Zeitweise forschte ich mit großem Eifer – es gab aber auch jahrelange Pausen. Ich hatte bei meiner Suche immer wieder auch Erfolg, stieß auf neue Spuren. Hier gab es eine Notiz, dort einen Hinweis, die Schwester meiner leiblichen Mutter kam mich eines Tages besuchen und bei ihrem Bruder bin ich mal einen Nachmittag lang zu Gast gewesen. Meine leibliche Mutter hätte ich natürlich auch gerne kennengelernt, aber sie verweigerte mir immer wieder jeden Kontakt, jede Auskunft, bis zuletzt. Ich weiß nicht, ob sie noch lebt. Für sie – als „gefallenes Mädchen“, wie man das damals nannte – muss die frühe Zeit mit mir ein Horror gewesen sein. Sie hatte wohl auch nicht die Kraft, dem Gerede der bürgerlichen Kreise zu widerstehen, aus denen sie stammte. Sie hat sich angepasst.

Der Staat hat mir das Suchen nach meiner frühen Geschichte auch nicht eben leicht gemacht. Mein Adoptivvater half mir anfangs dabei und hatte schon, als ich 18 war, das Jugendamt um diesbezügliche Auskunft gebeten. Ihm wurde schriftlich beschieden, dass es doch eigentlich Sinn einer Adoption sei, den Kontakt zur Kindesmutter zu unterbrechen. In die über mich in den 1950er Jahren angelegte Akte der Amtsvormundschaft habe ich dann auch nie persönlich Einblick nehmen können – aus datenschutzrechtlichen Gründen, wie es hieß. Zwanzig Jahre nach meiner Adoption wurden die Unterlagen streng nach Vorschrift vernichtet. Ja, so war das damals. Und das waren nicht die letzten Hindernisse, die sich mir auf meiner Odyssee in den Weg stellten. Immerhin ist es mir dadurch bei meinen Erkundungen auch nie langweilig geworden: immer wieder musste ich selbst aktiv werden und stets gab es Neues zu erfahren. Langsam wurde mir dabei auch innerlich bewusst, welch große Lücke in meinem frühen Leben klaffte. Auch wenn ich einige Erinnerungen hatte, empfand ich diese Zeit oft als tot, nicht zu mir gehörig. Tote Wurzeln.

Nicht zuletzt durch meine rastlose Wissbegier hat sich dieses Gefühl im Lauf der Zeit glücklicherweise gegeben. Mein größter Erfolg war schließlich – da war ich schon fast 50 – dass ich über eine Anzeige, die ich in einem Berliner Nachbarschaftsblatt aufgegeben hatte, eine Erzieherin aus meinem zweiten Heimaufenthalt kennenlernen konnte. Eine sehr liebe, aufgeweckte und inzwischen natürlich auch schon recht bejahrte Dame. Diese konnte sich zwar nicht mehr an mich persönlich erinnern, aber es sprach alles dafür, dass wir einige Zeit zusammen verbracht haben mussten. Sie war genau das, was ich gesucht hatte: ich konnte mir ihren freundlichen Blick auf das Kind in jener verlassenen Zeit vorstellen, und das hat mir viel gegeben.

Bis heute mache ich immer wieder neue Entdeckungen. Zum Beispiel: Ich trage schon immer neben meinem Rufnamen zwei weitere Vornamen. Früher habe ich mir dabei nichts weiter gedacht. Bis ich vor einigen Jahren auf ein besonderes Geheimnis stieß, nämlich dass es für meine Zeugung zwei Kandidaten gab. Meine leibliche Mutter wusste selbst nicht, wer “es” war und hat mir, so vermute ich, deswegen neben meinem Rufnamen die Vornamen beider Kandidaten mitgegeben. Ich trage diese Namen gerne, sie gehören zu mir – sie sind eigentlich die einzige Auskunft, die ich von meiner ersten Mutter je über mich bekommen habe. Ob sie mir dieses Geheimnis wirklich mitgeben wollte, weiß ich natürlich nicht, aber ich reime mir das so zusammen. Vielleicht hatte sie ja doch auch ein bisschen Humor, selbst in ihrer schwierigen Lage damals. Das ist jedenfalls eine schöne Vorstellung für mich.

So braucht jeder Mensch seine Geschichte, die er sich erzählen kann. Diese Geschichte erzählt kein Personalausweis, sie hat auch nicht unbedingt mit gesellschaftlichen „Klebstoffen“ wie genetischer Abstammung, nationaler Zugehörigkeit oder biologischem Geschlecht zu tun. Jeder von uns lotet für sich selbst aus, wie er sich diese Geschichte erzählt – irgendwo zwischen seinen Bedürfnissen nach Selbstbestimmung und Zugehörigkeit. “Ich bin ich und ich gehöre dazu”, so habe ich das für mich selbst einmal am Ende einer Suchperiode auf den Punkt gebracht: manchmal brauche ich die feste Verankerung, und dann bin ich wieder auf Reisen.