Schutzengel für Alex

von Angelika

Alex wusste nichts davon, dass eine ziemlich hohe Etage über ihm gerade über seinen Alltag gegrübelt wurde. Etage ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort, denn das Grübeln fand in solchen Höhen statt, in denen sich sonst nur die himmlischen Heerscharen aufhalten.

Arielle war schon vor 35 Jahren dazu berufen worden, auf die Lebensbahn des Alex aufzupassen. Nicht im Sinne eines Total Quality Managements, so modern war man in der oberen Etage nicht, aber „behüten und begleiten“ hieß das Programm.

Arielle hatte am Montag die Aufgabe übernehmen müssen, Unfälle zu verhindern, denn Alex hatte eine Dienstreise durch die halbe Republik unternommen, und das war bei dem riskanten Fahrstil des freiheitsliebenden und Regeln verabscheuenden Alex eine Sache, die herausfordernd war. Gerade heute hatte Arielle wieder an drei Kreuzungen die Grünphase für ihn verlängern und die Rotphase für den Querverkehr verkürzen müssen, weil Alex sonst genau in der Mitte der Kreuzung mit einem Lastwagen zusammengestoßen wäre. Nach so einem Tag war Arielle einfach nur noch müde und frustriert.

Dienstag hatte Arielle dafür gesorgt, Krankheiten und körperliche Schäden von Alex abzuwenden. Sie hatte viel Mühe damit gehabt, ein Blutgerinnsel aus der Nähe seines Herzens zu entfernen. Dann hatte sie noch so hartnäckig Werbung für Knoblauchpräparate in das Blickfeld von Alex beim Einkaufen geschoben, dass dieser tatsächlich eines erworben hatte. Es stand zu hoffen, dass er es vielleicht auch nehmen werde, so dass auf natürliche Weise die Fließfähigkeit des Blutes wieder erhöht werden könnte. Auch dies war anstrengend gewesen und hatte erhebliche geistige Beeinflussungsenergie erfordert.

Arielle hatte sogar auf ihren jährlichen Urlaubsanspruch verzichtet, denn Mittwoch stand die Aufgabe an, allgemeine Naturkatastrophen, Straftaten und Attentate von Alex abzuwenden. Sie hatte sich viel Mühe geben müssen, dafür zu sorgen, dass der Inhaberin des nahegelegenen Reisebüros heute so übel geworden war, dass sie den Laden schließen musste, denn sonst hätte Alex eine Reise auf die Kanaren gebucht, wo er kaum eine Woche später, wie Arielle mit ihren hellsichtigen Augen zweifelsfrei feststellen konnte, von den giftigen Gasen eines Vulkans dahingerafft worden wäre. Arielle sehnte sich jetzt selbst nach Urlaub und Erholung im göttlichen Engelshausen.

Donnerstag musste Alex vor psychischen Störungen und Verwirrtheitszuständen bewahrt werden. Er war mit begierigem Blick in der Bahnhofsgegend der Großstadt an den Dealern vorbeigegangen und hatte ernsthaft überlegt, eine der vielen synthetischen Drogen anzukaufen. Arielle wusste, dass dies dann innerhalb der nächsten fünf Jahre zu Suchtabhängigkeit geführt hätte, und so hatte sie es in letzter Minute arrangiert, dass Alex über den Bordstein gestolpert und so mit dem Fuß umgeknickt war, dass er fluchend nach Hause hinken musste. Die Versuchung, einmal Drogen auszuprobieren, hatte er über diesem Vorfall völlig vergessen. Arielle war erschöpft vom mühsamen Bordsteinzauber.

Freitag saß Arielle also auf Wolke 7 und grübelte. Sie war aufgrund ihrer Millionen Jahre langen Erfahrung als Engel bestens dafür geeignet, das Bewusstsein und die Wahrnehmung von Menschenwesen so zu beeinflussen, dass diese ein möglichst glückliches Leben führen konnten. Wie jeder auch nur halbwegs gut ausgebildete Engel weiß, ist es dafür unbedingt erforderlich, dass Menschen zu ihrem Glück eine gute Verträglichkeit mit ihren Mitmenschen, einen friedlichen Geist, eine dankbare Grundhaltung, eine humorvolle Einstellung, Liebesfähigkeit, Zufriedenheit, Naturverbundenheit und eine gewisse Spiritualität brauchen. Nicht, dass sie jetzt unbedingt an Schutzengel glauben müssten, aber für ein glückliches, zufriedenes, entspanntes und stressfreies Leben wäre es schon gut, wenn wenigstens ein Mindestmaß an Dankbarkeit bei den Menschenwesen zu verzeichnen wäre, für die Gnade, dass sie leben dürfen und Tag und Nacht beschützt und behütet durchs Leben geleitet werden.

Für die Motivation der eigenen Schutzengel ist es unerlässlich, dass sie wenigstens ein Minimum an Gratifikation für ihre unzähligen Mühen wahrnehmen können, denn wenn es ihnen ständig an Wertschätzung fehlt, besteht die konkrete Gefahr, dass sie irgendwann die unbezahlten Überstunden einstellen und sich in den himmlischen Wolkengarten begeben, um zusammen ein Glas Manna zu trinken. Und was in den unbehüteten Zeiten so mit den Menschenwesen geschieht, das weiß man ja auf Erden.

Während also in der oberen Etage Arielle um die Aufrechterhaltung ihrer Motivation ringt, sagt Alex gerade vor dem Einschlafen zu seiner Freundin: „Das war heute ein ganz mieser Tag, weil ich mir den Fuß verletzt habe, das Reisebüro geschlossen hatte und auch sonst wieder überhaupt gar nichts geschehen ist, wofür man dankbar sein könnte.“

In der Nacht aber träumt Alex einen seltsamen Traum von einem traurigen erschöpften Engel. Irgendwie fühlt er sich auf eine seltsame unerklärliche Art persönlich gemeint von dieser Traumgestalt, und als er morgens aufwacht, kann er sich zwar an den Traum nicht mehr erinnern, aber er ist ganz und gar verändert. Familie, Freunde und Kollegen fällt auf, dass Alex jetzt jeden Tag dankbaren Herzens und stillvergnügt durchs Leben geht. Vielleicht hat er irgendeine Art von komischer Erscheinung gehabt, man weiß es nicht. Seine Mitmenschen mögen ihn jetzt jedenfalls viel mehr als früher und suchen seine Gesellschaft, weil er so eine gute Ausstrahlung hat. Und Alex ist einfach nur glücklich und zufrieden, denn jeder Tag scheint ihm Anlass zu viel Dankbarkeit zu bieten.