von Beate Seelinger
Ja, ich bin dankbar.
Bin ich es wirklich?
Wie ich hier so sitze und über den Begriff nachdenke, meine ich, dass ich dankbar bin. Zumindest glaube ich, dass ich Grund habe, für vieles dankbar zu sein. Dankbar zu sein für eine Krankheit (das mag sich seltsam anhören), die mich früh traf und von der ich über die Jahre genesen bin. Durch die ich ein paar Kleinigkeiten gelernt habe, was die Fragen des Daseins angeht, und die mich dahin gebracht hat, dass ich letztendlich das bekam, was ich mir schon mit sechzehn gewünscht habe: Nicht Reichtum, nicht Erfolg, nicht Ansehen. Ein wenig Einsicht habe ich mir gewünscht, und ich denke, ich habe einen flüchtigen Blick davon bekommen. Ich fühle mich gesünder denn je. Grund, dankbar zu sein. Vielleicht der wichtigste.
Wenn ich morgens aufwache, begrüße ich einen Tag äußeren Friedens. Unser Land, unser Kontinent weitgehend, ist frei von Krieg und im Allgemeinen auch von blutigem Terror – verglichen mit dem Rest der Welt. Ich weiß dann, ich werde ein Frühstück haben, später dann ein Mittagessen und am Abend ein Abendessen. Ich werde mit großer Wahrscheinlichkeit heute und morgen ein Zuhause haben – ausgestattet mit Elektrizität, mit fließendem warmem und kaltem Wasser und wohnlich eingerichtet mit allem möglichen Schnickschnack, den man nicht unbedingt braucht. Ich kann mich hinreichend der Körperpflege widmen und kann in einem ganzen Kleiderschrank voll Kleidung nicht nur das finden, was man nötigst braucht, sondern auch noch das, worin ich mich wohlfühle und was mir gefällt. Vergleicht man diesen Tagesstart mit dem so vieler Menschen im Rest der Welt, müsste man eigentlich den ganzen Tag über ein Jubilate singen. Grund, dankbar zu sein.
Ich bin nicht reich, aber es hat sich gefügt – und auch dies ist verwunderlich und des Dankes würdig – dass ich mein gutes Auskommen habe. Meine Lebenssituation erlaubt mir meist ein entspanntes oder im rechten Maße angespanntes Zeitmanagement. Ich muss nie über Langeweile klagen, aber auch nicht über Stress, der mir den Lebensatem raubt. Ich hatte das Glück, eine brauchbare Erziehung und Ausbildung und interessante Arbeitsstationen durchlaufen zu dürfen, welche mir einen – wie ich hoffe – einigermaßen regen Geist und ein paar sinnvolle Gedanken hinterlassen haben. Zumindest kann ich denken, planen, organisieren, koordinieren. Kann meinen Alltag ohne größere Probleme meistern. Es gibt Menschen, die das nicht können. Also habe ich wieder Glück gehabt. Noch ein paar Gründe, dankbar zu sein.
Vielleicht bin ich nicht gerade ein sozialer Tausendsassa, doch das Schicksal hat es so gefügt, dass ich gut alleine sein kann. Meine äußere Lebenssituation hält mich von Trubel und Freizeitstress fern, und glücklicherweise oder unglücklicherweise bin ich eher introvertiert, so dass ich selbiges nicht oft vermisse. Eine gute Fee hat mir Kreativität in die Wiege gelegt, so dass ich auch in freien Stunden immer etwas zu tun weiß. So bin ich also meist gesättigt, was Beschäftigung angeht, und neige eher zum Kreieren als zum Konsumieren. Mir persönlich gefällt das meistens. Also wieder ein Grund, dankbar zu sein.
Ich bin nicht weit gereist, aber habe hinreichende Auslandserfahrung. So viel, dass ich mein eigenes Land mit Abstand betrachten kann. Das schadet nicht. So viel, dass ich Liebe zum Fremdartigen entwickeln konnte. Auch das schadet nicht. Und so viel, dass ich einen Schatz an guten Erinnerungen habe, der ausreicht, mich und andere unterhalten zu können. Also muss ich mich auch da nicht beklagen, zu kurz gekommen zu sein. Noch ein Grund, dankbar zu sein.
Bei nichts von dem, was ich hier aufgezählt habe, handelt es sich um spektakuläre materielle oder immaterielle Reichtümer. Ich denke, der Großteil der Westeuropäer teilt mit mir diese oder ähnliche Gründe, dankbar zu sein. Und – wie gesagt – schaut man über den Tellerrand hinaus und vergleicht uns mit dem Rest der Welt, wäre ein andauerndes Hosianna-Singen nicht unangebracht.
Wir singen nicht Hosianna
Wir singen jedoch nicht von morgens bis abends Hosianna. Wir sind nicht ständig glücklich. Und schon einmal gar nicht dankbar. Wir sagen oft so daher: „Wir können ja so dankbar sein…“. Sind wir aber nicht. Gerade wir Deutschen nicht.
Gesagt ist es leicht. Jedoch gerade wir Deutschen sind ein Volk der Nörgler, und das meine nicht nur ich. Und ich schließe mich da nicht aus. Wir neigen so gerne dazu, unsere Nörgel-Lust hinter dem Vorwand, gerechtfertigte Kritik zu üben, verbergen zu wollen. Unser weltbekannter deutscher kritischer Geist hat uns zwar weit gebracht; ob wir immer noch das Land der Dichter und Denker sind, sei einmal dahingestellt, jedoch wir gehören immer noch zu den führenden Nationen. Aber gerade deswegen ist es eine Spezialität von uns Deutschen, auf gehobenem Niveau zu nörgeln und unzufrieden zu sein. Und Nörgelei und Unzufriedenheit vertragen sich nun einmal so gar nicht mit Dankbarkeit.
Und entgegen aller zuerst aufgeführten Gründe bin auch ich, wenn ich ehrlich bin, nicht wirklich dankbar. Mir ist bewusst, dass ich dankbar sein müsste, und abends, so habe ich mir das angewöhnt, halte ich mir das, was gut war am Tag, auch vor Augen. Haarklein. Und dann fühle ich auch immer für einen Moment ganz große Dankbarkeit. Aber diese hinüber zu retten in den Alltag, sie den ganzen täglichen Trott hindurch aufrechtzuerhalten, das gelingt mir nicht. Ich vergesse die vielen guten Gründe und ärgere mich, streite mich, echauffiere mich und mache den guten Geist kaputt mit der immer wieder überhand nehmenden Unzufriedenheit mit irgendetwas. Manchmal hadere ich auch genau mit den Gegebenheiten, die ich oben gerade noch als Gründe für Dankbarkeit aufgeführt habe. Und das hingebungsvoll. Unzufriedenheit heißt der Feind von Dankbarkeit. Und seien wir doch ehrlich: der Grund für unsere sozialen Streitigkeiten, Machtkämpfe, Kriegsschauplätze im Kleinen und in Verletzlichkeiten ist doch letztendlich Unzufriedenheit, die Undankbarkeit im Schlepptau hat. Und wer könnte sich freisprechen von negativen Verstrickungen der genannten Art?
Von der Kunst, dankbar zu sein
Wir tragen den Samen für Unfrieden in der Seele. Und so ist es eine große Kunst, dankbar zu sein, wirklich und echt dankbar zu sein, meine ich. Echt empfundene Dankbarkeit würde uns frei machen von unserem ständigen Streben nach irgendetwas. Mit echter Dankbarkeit würde stimmen, was wir hätten und nicht hätten, weil Dankbarkeit satt macht. Nicht bräsig satt, so dass man sich nicht mehr bewegen will, aber so wie nach einem guten Essen, bei dem man sich nicht überessen hat und nicht hungrig geblieben ist. Man braucht dann erst einmal nichts weiter, man ist zufrieden. Und Zufriedenheit und Dankbarkeit sind Geschwister. Echte Dankbarkeit würde uns wissen lassen, dass alles immer schon da ist, in uns ist. Wir müssten uns weniger sorgen. Echte Dankbarkeit brächte Wertschätzung. Von allem. Und wenn ich ehrlich bin – wen und was schätze ich alles nicht wert? Dankbarkeit brächte Freiraum. Wenn wir glaubten, zu haben, was wir brauchen, wie viel Kapazität hätten wir für die guten Dinge: Soziales Engagement, Kunst, Kultur, Religion, Liebe. Dankbarkeit würde einen Schlussstrich setzen unter Rivalität und Feindschaft. Mit einem dankbaren Herzen müsste man es dann hinkriegen, für seinen Rivalen oder Feind dankbar und ihm gegenüber gleichzeitig aversiv zu sein. Kein einfaches Unterfangen. Wenn wir dankbar wären, bräuchten wir dafür einen Adressaten. Dankbarkeit möchte man irgendjemandem entgegenbringen. Wir müssten und würden sie erst einmal unseren Mitmenschen entgegenbringen. Und den Tieren, von denen wir so viel bekommen. Und der Botanik. Wie würden wir mit solch einer Haltung miteinander und mit den Dingen umgehen! Wir würden vielleicht nach einer Instanz fragen, die die Ursache sein könnte, für alles, wofür wir dankbar wären. Da könnte man glatt auf einen Gott kommen. Und wenn wir dankbar wären, müssten wir dies wahrscheinlich auch ausdrücken. Vielleicht müssten wir uns dann freuen. Auch etwas, was heutzutage nicht allgemein verbreitet ist.
Dankbarkeit ließe uns den Moment wertschätzen, im Moment leben. Vielleicht würden wir mit Dankbarkeit auf die Vergangenheit schauen und könnten sie ruhen lassen. Vielleicht würden wir mit dankbarer Erwartung die Möglichkeiten der Zukunft vor uns sehen, könnten das Sorgen lassen und wären voll Vorfreude. Echte Dankbarkeit wäre etwas Ganzheitliches, nicht ein Gefühl, eine Haltung von vielen. Dankbarkeit wäre ein Sein, etwas Intrinsisches, etwas, was uns Menschen gänzlich verwandelt. Wie wäre es: Dankbarkeit als eine Verwandte von Liebe, ein Weg hin zu echter Liebe? Und beide zusammen hätten Frieden im Gepäck. Welch ein Potential in dem Sätzchen: „Wir können ja so dankbar sein…“!
Öfter mal um die Ecke denken
Natürlich: es gibt auf der Welt Lebensumstände, die für Dankbarkeit keinen Raum und keinen Anlass lassen und geben. Man schaue auf die Kriegs- und Krisengebiete, Katastrophen, die Fluchtbewegungen und den Hunger in nah und fern. Jedoch wir hier im Westen Europas und auch anderswo, wo es Wohlstand gibt und keine militärischen Konflikte, hätten doch eigentlich allen Grund, das mit der Dankbarkeit einmal auszuprobieren. Und wer weiß, vielleicht würde eine veränderte Grundhaltung, die von diesen privilegierten Gegenden ausginge, mehr Gerechtigkeit und, wie schon oben idealistisch formuliert, Frieden auch an die unter Leid aller Art ächzenden Orte anderswo in der Welt bringen.
Da bin ich, da sind wir, noch lange nicht. Es bleibt beim Üben. Bewusstmachung ist hier das Schlüsselwort. Manchmal um die Ecke denken, weil sich Gründe für Dankbarkeit ab und zu verkleiden. Immer ein bisschen mehr von der Anfangsdankbarkeit in den Alltag hinüberretten. Bis sie sich ausbreitet. Bis sie durch den Körper fließt wie das Blut durch die Venen. Das man auch nicht wahrnimmt, das uns aber am Leben hält. Bis sie das Handeln bestimmt. Bis sie sich ausbreitet. Und nicht die Instanz vergessen, die uns die Gründe für Dankbarkeit liefert. Denn auch die ist dankbar. Und drückt ihre Dankbarkeit auch aus. In noch mehr Gründen für Dankbarkeit, die sie uns liefern will.