Dankbarkeit – eine vergessene Tugend?

von Irma Hildebrandt

Irma Hildebrandt

Dankbarkeit – geheuchelt?

Für Cicero ist Dankbarkeit die größte aller Tugenden. Goethe sieht die Sache schon nüchterner, wenn er schreibt: „Dankbarkeit ist manchmal ein Band, oft aber eine Fessel.” Zweifellos kann Dankbarkeit, wenn sie als Pflichtübung gefordert wird, auch eine Belastung sein. Das empfinden schon kleine Kinder, wenn sie schön Händchen geben und sich bedanken sollen für ein Geschenk, das sie überhaupt nicht mögen. Eine Unehrlichkeit, die sich im späteren Leben fortsetzt. Hand aufs Herz: Wer hätte sich nicht schon höflich und mit geheuchelter Freude bedankt für ein absolut unpassendes Geschenk?

Dankbarkeit – in der Realität

Aber echte Dankbarkeit knüpft auch, wie Goethe betont, ein Band. Es ist bezeichnend, dass man in einem fremden Land mit einer fremden Sprache als eines der ersten Wörter “danke“ sagen lernt. Ein Zauberwort, das Türen und Herzen öffnet. Der Soziologe Georg Simmel nennt Dank das moralische Gedächtnis der Menschheit”. Ein Gedächtnis, das im Laufe der Zeit nie ganz verloren ging, auch wenn schon die alten Griechen sich über den Undank der Söhne beklagten und in den Geschichtsbüchern wenig von Dankbarkeit zu lesen ist. Ob diese, gewissermaßen als Urinstinkt, angeboren ist oder anerzogen, darüber lässt sich streiten. Eine Bekannte erzählte mir, ihre Enkel würden sich, wenn sie vom Tisch aufstehen, jedes Mal bei ihr für das Essen bedanken. Meine Enkel tun das nicht, aber ich bin auch keine so gute Köchin.

Dankbarkeit – wann und wem?

Wie und wann man wem zu danken hat, darüber hat Freiherr von Knigge schon im 18. Jahrhundert genaue Regeln für die feine Gesellschaft aufgestellt. Das einfache Volk brauchte keine Regeln, da genügte ein Händedruck als Dank. Und für den Dank an himmlische Mächte gab und gibt es hilfreiche Rituale und Gedenktage, wie das Erntedankfest zum Beispiel. Unabhängig vom kirchlichen Brauchtum setzten sich weltliche Danktage mehr und mehr durch, am erfolgreichsten wohl der Muttertag.

Umfrage zu Dankbarkeit heute

Ob die Menschen, speziell die Jugend, in der heutigen Überflussgesellschaft das Wort Dankbarkeit überhaupt noch kennen, wollte ich, herausgefordert durch eine kritische Kollegin, in einer kleinen Umfrage erkunden. Das Resultat fiel überraschend positiv aus. Die Kollegin allerdings fand das Ergebnis nicht repräsentativ und daher wertlos. Sie findet immer ein Haar in der Suppe und macht sich damit das Leben schwer. Wie Ilsebill im Märchen vom Fischer und syner Frau kommt sie mir vor: stets unzufrieden mit dem, was sie hat, ohne Dankbarkeit und ohne Freude.

Dankbarkeit bei Bonhoeffer

Wie positiv und Mut machend dagegen die Erkenntnis Dietrich Bonhoeffers: „Dankbarkeit macht das Leben erst reich.” Worte eines mutigen Theologen und Widerstandskämpfers, der Weihnachten 1944, wenige Monate vor seiner Hinrichtung im KZ Flossenbürg, noch voller Dankbarkeit an seine Angehörigen geschrieben hat:

Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben
 und mit euch gehen in ein neues Jahr.

Erstabdruck in “Frau und Kultur” 4/2011 zur Verfügung gestellt mit freundlicher Genehmigung der Autorin