Dankbarkeit? Eine kleine Erinnerung ans alltägliche Glück.

von Peter Schallock

Wird Dankbarkeit immer mehr zu einer aussterbenden Geste? In einer Zeit, in der Anspruchsdenken unser Handeln dominiert, könnte man das zuweilen annehmen. Vielleicht bedarf es  besonderer Situationen, manchmal auch Tragödien, um uns daran zu erinnern, dass vieles in unserem Leben gar nicht so selbstverständlich ist. Und dass man auch in unserer Komfortzone für Alltägliches dankbar sein kann. Nicht überall ist es so „gemütlich“ wie bei uns.

Ein deprimierender Blick nach Afghanistan und nach Haiti

Ein Foto aus einer vergangenen Zeit? Vielleicht. Ein karger Raum, der Lehmboden ist notdürftig mit Teppichen ausgelegt. Kahle Wände, bedeckt mit verblassten, abblätternden Farbresten. Ein Klassenzimmer einer Mädchenschule, mitten in der afghanischen Provinz. Was für ein Unterschied zu den oft liebevoll geschmückten Grundschulklassen in unseren Breiten!

Eine Momentaufnahme: Eine Gruppe junger Mädchen beim Unterricht. Kaum Bänke, die Kinder sitzen auf dem Boden.  Die Mädchen haben einen offenen, staunenden, vielleicht neugierigen Blick. Im Begleittext bestätigt ihnen ein Lehrer ausgesprochene Lernbegierigkeit.

Mitte August übernahmen die radikalislamischen Taliban innerhalb weniger Tage die Kontrolle über ganz Afghanistan. Ob Mädchen in Zukunft noch Schulen besuchen dürfen, ist fraglich, wohl eher zweifelhaft. Den Sekundarschulunterricht für Mädchen hat man bereits ausgesetzt. Im ersten Talibanregime wurden bereits zwölfjährige Mädchen mit Talibankämpfern zwangsverheiratet, anschließend unter der Burka versteckt und zu Hause eingesperrt. Diejenigen, die sich als Sieger über die Ungläubigen fühlen, werden Belohnung und Privilegien auch im neuen Emirat erwarten. Besonders jungen Frauen, die nach Jahren wieder Universitäten besuchen konnten und für eine bessere Zukunft lernten, droht nun ein vorzeitiges Ende ihrer so hoffnungsvoll begonnenen Zukunft.   Stattdessen: Zwangsheirat mit einem Talibankämpfer, der, tief verwurzelt in Traditionen, möglicherweise des Lesens und Schreibens unkundig, absoluten Gehorsam und eine große Kinderschar einfordert.

Noch eine Momentaufnahme aus Afghanistan, dieses Mal vom Kabuler Flughafen. Während die westlichen Staaten ihre Staatsangehörigen evakuieren, versuchen auch viele Afghanen, einen Platz in den Flugzeugen zu ergattern. Verstörende Bilder, auf denen Menschen sich außen an ein Flugzeug klammern, gehen um die Welt. Tage später lese ich, dass ein jugendlicher Fußballspieler dabei ums Leben kam. Berichten zufolge versuchen viele Afghanen, ihre bisherige Heimat auf dem Landweg zu verlassen. Um in Länder zu flüchten, in denen sie wahrscheinlich nicht willkommen sein werden. Bundespräsident Steinmeier sprach von einer menschlichen Tragödie.

Zur gleichen Zeit, auf dem amerikanischen Kontinent: In Haiti kommen bei einem schweren Erdbeben mehr als zweitausend Menschen ums Leben, zwölftausend werden zum Teil schwer verletzt.

Und was geht uns das an?

Wie es scheint, gehören Katastrophen aller Art nun mal zur menschlichen Existenz auf diesem Planeten. Nur geschahen die meist in weit entfernten Gefilden. Sie bleiben trotz oft bedrückender Bilder relativ abstrakt, weil wir nicht direkt betroffen sind. Nein, wir fühlen uns selbstverständlich sicher – zumindest vor den eben geschilderten Widrigkeiten. Wirklich extreme Armut, Naturkatastrophen oder Kriege blieben uns erspart. Für uns ist das ziemlich selbstverständlich.

Aber das hat sich geändert. Auch in Deutschland starben mit oder an Corona mehr als 90.000 Menschen. Die Zahl der Genesenen mit Langzeitschäden ist noch gar nicht erfasst, sie dürfte durchaus signifikant sein. Selbst die Launen der Natur machen keinen Bogen mehr um uns. Durch die Hochwasser- und Flutkatastrophe gab es im Westen Deutschlands fast 200 Tote, verloren viele Familien ihr komplettes Hab und Gut.

Solche Ereignisse mögen uns eine Mahnung sein, sie erinnern mich zumindest daran, in welch komfortablen Umständen ich doch lebe.

Man könnte einwenden, dass es sich bei den eingangs genannten Beispielen um Extreme handelt. Dass wir dagegen in politisch stabilen Verhältnissen leben. Obwohl es bei uns Menschen gibt, die in maßloser Übertreibung bereits die Entstehung einer Diktatur erkennen wollen, wegen ein paar vorübergehender  Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-Pandemie. Auch wir haben unsere Vergangenheit, die bekanntlich zahllose Opfer forderte. Aber die liegt lange zurück, und seitdem leben wir in Frieden, die meisten von uns in relativem Wohlstand. Und nein, wir müssen kein schlechtes Gewissen haben.

Das ganz alltägliche Elend, mitten unter uns

Es gibt bekanntlich neben Schwarz auch viele Grautöne. Auch bei uns gibt es die ganz „normale“ Armut, die alltägliche soziale Not, sichtbar typischerweise durch den Rentner, der Flaschen sammelt. Es gibt Missbrauch, häusliche und außerhäusliche Gewalt. Und keiner von uns ist vor schweren Krankheiten gefeit.

Corona hat, neben Folgen für unsere Gesundheit, natürlich auch wirtschaftliche, soziale und psychische Auswirkungen. Und vielleicht sind wir dankbar, vielleicht denken wir auch gar nicht darüber nach, dass wir von der Krankheit bislang verschont blieben oder sie vielleicht gut überstanden haben. Eines Tages freuen wir uns vielleicht darüber, wenn das, was wir eigentlich als „normal“ ansehen, wieder zum Alltag wird. Wenn wir wieder wie gewohnt Kontakte pflegen können, in unseren Unternehmungen nicht mehr eingeschränkt sind. Wir wirtschaftlich wegen ausbleibender Gäste oder Kunden nicht mehr um unsere berufliche oder finanzielle Existenz fürchten müssen.

Es gab sie schon immer und überall, diese Ermahnungen. Wenn wir erfahren, dass ein ehemaliger Kollege an einer lebensgefährlichen Krankheit leidet, die Eltern an Demenz oder Alzheimer erkrankt sind und wir bei uns selbst immer öfter alle möglichen gesundheitlichen Beschwerden bemerken. In jenen Momenten werden wir daran erinnert, dass Gesundheit, besonders in fortgeschrittenem Alter, nicht garantiert ist.

Wenn sich das junge Paar, dass doch so glücklich wirkte und gerade ins neue Eigenheim einzog, plötzlich trennt, schätzen wir unsere stabile Beziehung oder unseren Freundeskreis umso mehr.  Wenn der Bekannte seinen langjährigen Arbeitsplatz verliert, weil anderswo billiger produziert wird, oder die junge Frau, die nach durchaus engagiertem Studium einfach keinen Arbeitsplatz findet – dann hätten wir allen Grund, für unsere wirtschaftliche Sicherheit dankbar zu sein. Sind wir es auch?

Wir haben viel zu verlieren

Oft verschwenden wir an Schicksalsschläge keine Gedanken. Wir schauen nach vorne, wollen in der Regel mehr – an Lebensqualität, Zeit, an materiellen Dingen oder was auch immer. Was ja auch Sinn macht: Wir brauchen Ziele, um uns zu motivieren. Klappt jedoch nicht, was wir vorhaben, reagieren wir oft mit Enttäuschung und Verärgerung, suchen vielleicht nach Schuldigen. Ja, wir jammern zuweilen auf ziemlich hohem Niveau.

Dabei wäre es vielleicht ganz hilfreich, einen Moment innezuhalten. Daran zu denken, dass wir nicht nur „mehr“ erreichen können, sondern durchaus auch „viel“ zu verlieren haben. Und dass wir bereits morgen Opfer eines Schicksalsschlages sein können. Geht es uns gut, dürfen wir  uns dessen ruhig wenigstens gelegentlich bewusst sein – und dafür dankbar sein. Was nicht nur uns selbst gut- tut, sondern sich garantiert auch im Verhalten zu unseren Mitmenschen positiv zeigen dürfte. Und, so meinen Forscher, auch unserer Gesundheit guttut.

Es klingt vielleicht abgedroschen, aber man kann sich auch darüber freuen, dass es einem einfach nur gut geht. Philosophen meinten damit einst die „Abwesenheit von Leid“. Oder sich an Kleinigkeiten erfreuen. Dankbar sein, dass uns zwischendurch etwas unerwartet Schönes, Angenehmes passiert. Das muss gar nichts Großartiges sein. Vielleicht ist es eine nette Begegnung unterwegs, ein unerwarteter Anruf oder auch nur die sich manchmal plötzlich einschleichende Gefühlsanwandlung, die mir in einem zufälligen Augenblick klar macht, wie gut es mir geht. Kennen Sie das auch?

Auch dafür darf man dankbar sein.

Ich jedenfalls habe die Erfahrung gemacht, dass bewusst dankbare Menschen glücklicher sind als Misanthropen, die an ihrer eigenen Existenz leiden.

In diesem Sinne: Danke, dass Sie diesen Text gelesen haben!