Dank an Max Frisch

Ein Tagebuch-Workshop

von Inge Kellersmann

Wer war Max Frisch?

Mit seinen Romanen und Bühnenerfolgen gehört Max Frisch, der am 15. Mai  dieses Jahres (2011 U.L.) 100 Jahre alt geworden  wäre, zu den wichtigsten Autoren der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Max Frisch hat immer wieder zu gesellschaftlichen und politischen Fragen seiner Zeit Stellung bezogen. Er war auch ein glänzender Tagebuch-Schreiber, der in Gesprächen, Szenen und Meditationen Befunde mitteilte und einen umfangreichen Einblick in sein Leben gegeben hat.

Ein Workshop: Tagebuch schreiben

Anlässlich des Jubiläums erschienen im Mai nicht nur viele Artikel und neue Biografien über Max Frisch, auch die Schulen und die Universität haben sich mit ihm und seinem Werk beschäftigt. So bot die Freie Universität Berlin u. a. Literaturseminare zu seinen Romanen Homo Faber, Montauk und dem Buch Entwürfe zu einem dritten Tagebuch den älteren Studierenden an. Auch ein Workshop „Tagebuch schreiben mit Max Frisch” klang interessant. Tagebuch schreiben? Eigentlich ja. Ich meldete mich an.

Sollte man die Tagebücher-Ausgaben von Max Frisch kennen? Nein, es war nicht notwendig. Voraussetzung war aber, ein Tagebuch nach bestimmten Kriterien zu schreiben und auch daraus in der Gruppe vorzulesen, wenn es nicht zu persönlich war.

 Ein Fragebogen zum Thema Dankbarkeit

Eine Aufgabe während des Workshops bestand darin, selbst einen Fragebogen zu erstellen und ihn selbst oder mit anderen zu beantworten. Anlass war der berühmte Fragebogen von Max Frisch aus dem Jahre 1966. Der Radiosender WDR 5 und die FAZ haben ihn einigen Künstlern, Literaten, Politikern und Wissenschaftlerinnen vorgelegt. So lautet z.B. die Frage 24: „Wofür sind Sie dankbar?“

Im Tagebuch 1966 – 1971 (Suhrkamp 1972), in dem noch viele Fragebögen zu den unterschiedlichsten Themen zur Diskussion stehen, übertitelt Max Frisch einen Eintrag mit „Dankbarkeiten”. Er schreibt:

„Keine Instanz verlangt jährlich oder zweijährlich (wie die Steuerbehörde) eine Liste der Dankbarkeiten... … Gestern auf der Straße habe ich von fern einen Mann gesehen, dem ich viel zu verdanken habe, sogar sehr viel. Es ist  zwar lange her. Er scheint es zu wissen, dass ich ein Gefühl der Dankbarkeit nie  loswerde; Gefühl ist es eigentlich nicht mehr, aber ein Bewusstsein, lebenslänglich. Hingegen hatte ich das Gefühl, er habe mich vorher schon erkannt, aber er ging weiter, tat, als habe er mich nicht gesehen. Was soll er mit meinem Bewusstsein von Dankbarkeit? Ich hätte ihm gerade noch nachlaufen können, tat es nicht und war betroffen, dass ich es nicht tat. Er hat nicht allein mein Studium der Architektur und ermöglicht; Schopenhauer, Mozart und Beethoven, Nietzsche, Psychologie, Riemenschneider, Oswald Spengler, Bruckner, die Khmer-Kunst und so vieles verdanke ich diesem Mann, auch das Engadin. Seine Anzüge allerdings, Mäntel, alle noch in gutem Zustand, wenn er sie dem Freund vermachte, waren immer etwas zu groß, vor allem die Ärmel zu lang.”

Max Frisch weiß viele ‚Dankbarkeiten‘.

“… Gäbe es eine Instanz, die eine Liste der Dankbarkeiten binnen einer Woche  verlangt, so würde ich ferner auf die Liste setzen:

  • die Mutter
  • die Tatsache, dass ich sehr früh einem jüdischen Menschen begegnet  bin, einem sehr deutsch-jüdischen
  • der frühe Tod des Vaters
  • die Erfahrung der praktischen Armut
  • dass ich nicht nach Stalingrad befohlen worden bin oder in die Reichsschrifttumskammer
  • eine leichtsinnige Gesundheit
  • die Begegnung mit Peter Suhrkamp
  • die Begegnung mit Brecht
  • dass ich Kinder habe (…)

Die Instanz gibt es nicht, die unsere Dankbarkeiten wissen will, ihren derzeitigen Stand, ihren Verbrauch, ihre Zunahme usw. Vermutlich würde man das Formular (a bis z) alljährlich etwas anders ausfüllen.” (Max Frisch, 1969)

In Frischs Erzählung Montauk beschreibt er ausführlicher sein Freundschaftsverhältnis zu W., dem Klassenkameraden aus dem Zürcher Gymnasium, und endet mit dem Satz: „Hätte ich mich ihm weniger unterworfen, es wäre ergiebiger gewesen, auch für ihn.

Mein Thema im Workshop und was daraus wurde

In unserem Workshop der FU Berlin hatten wir uns nicht nur mit Fragebögen zu beschäftigen, eine andere Aufgabe bestand darin, ein Thema mit Varianten zu suchen. Im Zusammenhang mit der Erzählung über die Freundschaft mit W. in „Montauk” und seinem zweiten Tagebuch wählte ich das Thema Dankbarkeit. Um daraus vorzulesen, beschrieb ich täglich eine Beobachtung, eine Stimmung oder eine Begegnung. Dann nahm ich mir vor, mindestens einmal im Monat fünf Dinge, für die ich dankbar bin, zu notieren.

Es sind nicht nur andere Menschen, denen man dankbar ist, die mir geholfen, mich unterstützt und mir vertraut haben. Es sind auch Kleinigkeiten wie ein gutes Gespräch, ein Kompliment, das Lächeln eines Nachbarn. Dies zu bemerken und später aufzuschreiben, gibt ein Gefühl der Verbundenheit und der Wertschätzung des einzelnen Augenblicks. Somit hat der Workshop – Tagebuch schreiben mit Max Frisch – dazu beigetragen, sich der Dankbarkeit öfters bewusst zu werden. Eine Anregung – auch für Sie?

lnge Kellersmann

(aus  Frau und Kultur, Ausgabe 4, 2011, zur Verfügung gestellt mit freundlicher Genehmigung der Autorin)