Der Altersruhesitz

von Beate Seelinger

Wohnen im Alter

Meine Wohnsituation im Alter von 68 ist weder aufregend noch abenteuerlich noch wahnsinnig ungewöhnlich. Sie ist jedoch auch nicht das Übliche. Kann man also darüber etwas schreiben, was von allgemeinem Interesse ist? Ich habe kein Konzept im Kopf, fange aber einfach einmal an.

So war es früher

Bis vor einigen Jahren lebte ich im Herzen – im Altstadtherzen – einer rheinischen Großstadt. Das war gut. Man hatte alles: eine Einkaufsmeile um die Ecke, kulturelles Leben mehr oder weniger vor der Haustüre und eine dem Viertel ganz eigene Szenekultur, die nichts zu wünschen übrig ließ. Es hat mir über zwanzig Jahre prima gefallen dort, bis mich eines Tages die Idee überrannte, dass ich nun schon älter sei, und dass ich mich wahrscheinlich nach etwas mehr Ruhe und Beschaulichkeit sehnte, als in der Großstadt gegeben. Also fing ich an, über Umzug nachzudenken. Vor die Tore der Metropole, irgendwie unbestimmt aufs Land. Ab und zu vagabundierte ich mehr oder weniger ziellos durch Wohnungsanzeigen und hoffte, eines Tages auf das eine Angebot zu stoßen, dem ich so einfach gar nicht widerstehen können würde.

Aufbruchsstimmung

In diese Zeit fiel der Entschluss meiner betagten, jedoch für ihr Alter sehr fitten Eltern, zurück an den Ursprungsort unseres Familienstammbaums zu ziehen, wo sie einige Jahre zuvor ein zweites Haus gebaut hatten, das auch vage als Altersruhesitz angedacht worden war. Ein wahrhaft traumhafter Alterssitz: Ein hügeliges Grundstück, umgeben von den dunkelgrünen Bergen des Odenwaldes mit Blick auf die mittelalterliche Kulisse eines Fachwerkstädtchens inklusive Kloster, Kapelle und Burg auf dem, jenseits des Flusses, gegenüber liegenden Hang. Meine Eltern pflegten in ihrer aktiven Zeit, große Wanderer vor dem Herrn zu sein, und sie malten sich nun aus, wie sie sich auf den komfortablen Wegen des Odenwaldes ihrem Rentnerdasein überlassen würden. Und könne man einmal nicht mehr wandern, hätte man ja diese bestechende Aussicht. „A Room with a View“ heißt ein sehr schöner Roman von E. M. Forster, und dieser Titel kommt mir noch heute immer in den Sinn, blicke ich aus dem Fenster im Wohnzimmer dieses Hauses mit Hanglage: ein Zimmer mit Aussicht.

Zunächst bedurfte es jedoch einiger Überzeugungsarbeit von Seiten meines Vaters, was meine Mutter anging. Sie hatte Einwände und war von den Umzugsplänen nicht begeistert. Eine Kleinstadt. Jeder kenne einen da. Man müsse die Freunde zurücklassen. Und ein Wohnungswechsel in diesem  Alter! Man hatte sich auch auf den von meinem Vater zwinkernden Auges vorgetragenen Kompromiss nicht einigen können, dass sie im Nordwesten bleiben und er alleine südlich des Mains abwandern würde; und dass man sich ja einmal im Monat am Frankfurter Kreuz, in der exakten Mitte der Entfernung zwischen den beiden Orten, treffen und die schmutzige Wäsche übergeben könnte. Schließlich jedoch, nach zahlreichen schlaflosen Nächten, konnte die getreue Ehefrau sich dem Übersiedlungsgedanken doch noch anschließen und sagte zu. Ja, und die beiden fragten mich, ob ich mitkommen wolle. Es gibt in diesem Haus am Hang eine Einliegerwohnung, und die wurde mir großzügiger Weise angeboten. Auch aus dieser gibt es die beschriebene pittoreske Aussicht. Und eine Terrasse zum Garten hin. So fuhr ich gedankenvoll mit in den Odenwald. Natürlich kannte ich den Ort von meiner eigenen Kindheit her, jedoch ich hatte mir diesen noch nie unter dem Aspekt, ihn zu meinem Wohnort wählen zu wollen, angesehen. Wie es damit stehen sollte, wollte ich erst einmal austesten. Und so verbrachte ich probeweise ein paar Tage in meiner potentiellen neuen Wohnung und ließ die Umgebung auf mich wirken.

Ich glaube, es war vor allem das Rauschen des Wehrs an der Schleuse, das an einem dieser lauen Sommerabende herüber wehte. Und die Grille unter dem Forsythien-Busch, die ihr Abendlied sang. Dann die vom Fluss und von den Wäldern herauf steigende Kühle. Schließlich das sich langsam aus dem Dunkel erhebende rötliche Licht, das Kloster und Burg beleuchtete. Wir saßen auf der Terrasse und tranken Sangria. Und die Perspektive, in dies alles jederzeit eintauchen zu können, betörte die Sinne.

Am neuen Ort

Jedenfalls übersiedelte ich kurz entschlossen ebenfalls zurück an unseren Ursprungsort. Und hier wohne ich nun. In einem idyllischen Städtchen, dessen schon zu Umzugszeiten übersichtliche Anzahl an Läden inzwischen auf eine mit einem Blick zu erfassende Zahl geschrumpft ist. Dessen Nachtleben um 17:30 Uhr beginnt, und das den geneigten Party- und Kinogänger in stockdunkle Finsternis sowie absolute Ereignislosigkeit stürzt. Das Leben am mittelalterlichen Ort stellt sich in der Tat ganz anders dar als in der Stadt. Aber die Grille singt noch immer und dazu noch eine Amsel, die ich im Winter füttere, und die sich deswegen unseren Garten als Revier ausgesucht hat. Das Wehr rauscht auch noch, und Kloster und Burg leuchten abends noch immer in schönem Glutrot. Die Idee von Beschaulichkeit, die mich damals am anderen Ort überkommen hat, habe ich umgesetzt. Aber davon allein kann man natürlich nicht leben.

Meine Eltern wurden mit der Zeit unvermeidlicher Weise noch betagter, und das sollte für mich heißen, dass ich eine immer größere Zahl ihrer Pflichten und Aufgaben übernehmen würde. So fing ich an, ein früheres Hobby – das Kochen nämlich – auszubauen. Bald mutierte es zur Selbstverständlichkeit, dass ich die beiden tagtäglich abends zum Essen herunter bat, und ich mich auch in Hausmannskost und Odenwälder Spezialitätenküche auszukennen lernte. Dann wurde für meinen Vater das Rasenmähen zu schwer, und so kam ich dann zur Gartenarbeit auf dem geräumigen Grundstück. Verantwortungsvoll gab der alte Herr seinen Führerschein ab, und ich avancierte zum Chauffeur für die bejahrten Herrschaften. Damit fiel mir auch der Wochenendeinkauf auf der grünen Wiese zu. Meine Eltern waren und sind eigentlich immer kerngesund gewesen, aber ich hatte die Kontrolltermine bei den Ärzten im Auge zu halten. Die Familiengräber mussten gepflegt werden. Kurz – der Aufgaben in Haus und Hof und rund um die Familie nahmen stetig zu, und bald war ich fast genauso ausgelastet wie zu Zeiten meiner Berufstätigkeit. Der Mittwochmorgen allerdings blieb reserviert. Mittwochs morgens war Wandern. Oder besser: Senioren Walking. Was als harmlose Spaziergänger-Gruppe ins Auge gefasst worden war – wie der Wanderführer später immer gern schmunzelnd bemerkte – hatte sich zur zirka dreistündigen, flotten und anspruchsvollen Walking Tour ausgewachsen, zu der, wenn alle antraten, rund fünfundzwanzig Aktive zusammen kamen. So lernte ich auch ein paar Gesichter kennen und hatte schon einmal eine Anbindung. 

Wie ist das mit dem Alter?

Diese Entwicklung betrachtend, kommen wir zu ein paar Überlegungen zum Thema Alter. Ich bin als Erwachsene im schon herbstlichen Alter noch einmal in die Strukturen der Stammfamilie zurückgekehrt. Das ist sicher nicht das Übliche. Und es geht auch nicht reibungslos. Die Eltern-Kind-Beziehung löst sich ja bekanntlich nie ganz auf. Und daran hatte und habe ich mich öfter auch ganz beachtlich zu reiben. Nicht so gut. Auf der anderen Seite bedeutet das wieder zusammengesetzte Familiengefüge auch eine Verjüngungskur für mich. Ich habe noch immer keine Zeit für Rente. Ich bin – anstatt mich zur Ruhe zu setzen – noch einmal voll eingestiegen. In andere Aufgaben zwar, in solche, die stressfreier als mein früherer Beruf daher kommen; in Aufgaben und Verpflichtungen, wie man sie eben für eine Familie hat. Durchaus anspruchsvoll, jedoch eher Eustress. Eine eigene Familie hatte ich nie. So erlebe ich, nachdem ich während eines längeren Jobs als Tagesmutter die Beziehung zu einem jungen Kind auskosten konnte, nach langer interessanter Berufstätigkeit auch noch, wie es ist, für eine Familie zu sorgen. Habe ich mir so eigentlich nicht ausgesucht – da bin ich reingerutscht. Jedoch, ich kann nicht klagen. Ich fühle mich vital deswegen und noch nicht in der letzten Lebensphase angekommen. So habe ich in der einen oder anderen Form doch noch wesentliche Lebensbereiche abdecken können. Noch einmal eine in sich begrenzte Phase, die Verantwortung mit sich bringt und fordert. Und dies erweist sich letztendlich als Jungbrunnen.

Stetige Veränderungen

Hirschhorn im Sommer (Foto: B.Seelinger)

Im Sommer letzten Jahres verstarb mein Vater. Nun habe ich nur noch für meine Mutter und mich zu sorgen, wurde jedoch sozusagen ungefragt zum Haushaltsvorstand gekürt. Nun ist zu den Aufgaben rund um Haus und Hof noch ein ganzer Stapel am Bürokratie und Organisation dazu gekommen. Und noch ein Stück mehr Verantwortung. Auf der anderen Seite geht es in der Hauswirtschaft lässiger zu. Etwas mehr Improvisation ist – nachdem der gerne als Autorität akzeptierte Vater nicht mehr ist – zugelassen und erwünscht.

Jetzt allerdings schreiben wir 2021, und es herrschen Pandemie und Lockdown. Und wieder haben sich die Gegebenheiten geändert. Ich habe plötzlich Zeit. Ich habe viel Zeit. Zeit für Kreativität aller Art. Ich genieße die Entschleunigung und die Vielzahl an schönen Dingen, die man tun kann. Aber – meine Tage sind trotz Lockdowns schon wieder voll. Das hatte ich noch nie: an einem Dienstag- oder Mittwochnachmittag – mitten in der Woche – malen oder handarbeiten. Einen ganzen Tag lang ungestört an einem Text herum modellieren. Freitags, anstatt zu putzen, im Sessel sitzen und in Zeitschriften schwelgen. Wann hat man das schon? Wenn ich nicht zu viele Menschen damit ärgern und sich viele nicht (zu Recht) provoziert fühlen müssten, möchte ich beinahe sagen: „Es lebe der Lockdown!“ – und wer spricht denn da von Langeweile?

Hirschhorn im Winter (Foto: B.Seelinger)

Eine überraschende Erkenntnis

Da mein Alltag ausgefüllt ist, und ich Leerlauf nicht so gerne habe, werde ich wahrscheinlich noch eine Zeitlang im idyllischen Ort ohne Geschäfte und Nachtleben wohnen bleiben. Natürlich fahre ich öfter in die nahegelegene Großstadt, natürlich gab und gibt es Freizeitaktivitäten. Ich gehe auf die siebzig zu, aber – wenn ich gesund bleibe – kommt da noch etwas. Es kommt auch etwas, wenn ich nicht gesund bleibe, das ist klar. Jedoch in guter Verfassung darf man vielleicht noch einmal auf eine weitere, ganz andere Phase hoffen. Wie die aussehen könnte, weiß ich mir noch nicht auszumalen. Wo ich dann wohnen werde, weiß ich nicht zu sagen. Was ich dann noch kann, weiß ich nicht abzuschätzen. So habe ich eigentlich am Thema vorbei geschrieben, denn das hier ist noch nicht „Wohnen im Alter“. Ich lebe zwar im Lebensherbst in einer Zweier-WG und bin nicht mehr im Beruf, aber `Alter` ist das noch nicht. Dies klärte sich für mich, während ich diesen Text geschrieben habe, und die Idee, die mich da in jener rheinischen Großstadt überrannte, und die suggerierte, dass ich langsam den Anforderungen des Älterwerdens gerecht werden müsse, war ein bisschen früh dran. Gut so. Und im Fall des vorliegenden Textes hat ein großzügig dem Bedürfnis der Autorin angepasster Heinrich von Kleist recht, wenn er über die Entwicklung der Gedanken – nicht beim Reden – sondern, in diesem Fall beim Schreiben, räsoniert. Die Abfassung dieser Zeilen brachte ein gedankliches Fortschreiten mit sich, brachte eine Erkenntnis hervor. Ich habe sozusagen beim Schreiben vom Wasser des Jungbrunnens getrunken und bin zu einem unerwarteten Befund gekommen: für das Thema „Wohnen im Alter“ bin ich noch zu jung.