von Ute Lenke
„Viele Jäger sind des Hasen Tod“ sagt man. Gilt das auch im übertragenen Sinn für andere Lebensbereiche? Zum Beispiel Mütter? Hat man eine, heißt es oft „bloß nicht werden wie meine Mutter“, hat man viele, ist es auch nicht recht – oder?
Viele Mütter
„Kannst du dir vorstellen, wie das ist, von 5 Müttern erzogen zu werden?“ Es war mein Onkel, der so klagte. Er war der langersehnte Sohn nach vier Töchtern. Seine Geburt 1910 wurde groß gefeiert, denn der Vater war so begeistert über den Stammhalter, dass er die ganze Nachbarschaft (die männliche versteht sich) zu Bier und Korn einlud; auch den Standesbeamten, der bierselig für meinen Onkel einen falschen Vornamen ins Stammbuch schrieb. Mutter und die 4 großen Schwestern freuten sich ebenfalls und rissen sich darum, den kleinen Bruder zu „betüddeln““, später ihn zu kommandieren. Diese Phase des Kommandierens war es wohl, die mein Onkel in schlechter Erinnerung hatte. Zu seiner nächsten Schwester, „nur“ 6 Jahre älter als er, hatte er ein gutes Verhältnis. Für sie und ihren Freund – später meine Eltern – spielte er den Postillon d’Amour.
Meine ersten Mütter
Die Mütterproblematik des Onkels verstand ich gut: war es mir doch als Kind ähnlich ergangen. Ich war 1941,10 Jahre nach meiner Schwester geboren; nicht ganz so begeistert empfangen wie mein Onkel: nur ein Mädchen, meine Mutter (37!) fand sich „zu alt“ für ein Baby und dann noch mitten im Krieg! Meiner Schwester wurden also früh – zu früh – mütterliche Pflichten auferlegt: Sie musste mich Spazierenfahren (mit Wecker im Kinderwagen, damit sie pünktlich wieder zu ihren Freundinnen konnte), sie musste die Besuche beim Kinderarzt mit mir wahrnehmen (wobei sie sportlich, wie sie war, mit mir auf dem Arm einmal versuchte, eine anfahrende Tram zu entern). Und anderes mehr. Ich befürchte, die frühen Mutteraufgaben haben dazu beigetragen, dass sie nie geheiratet hat, aber bis zu ihrem letzten Atemzug um mein Wohlergehen besorgt war. Sprechen lernte ich durch das damals für vielbeschäftigte Mütter übliche „Pflichtjahrmädchen“ – eine Augsburgerin aus der Jakobervorstadt: Meine Muttersprache war Augsburger schwäbisch.
In der Großfamilie
Kriegsbedingt fanden Mutter, Schwester und ich Unterschlupf bei den Familien der Eltern in Norddeutschland. Die Verwandten hielten mich für schwachsinnig: Ich sprach und verstand nur schwäbisch, Großvater nur ostpreußisch, alle anderen nur hochdeutsch. Aber ich lernte schnell und vergaß leider mein schwäbisch. Dafür bekam ich nun viele neue Mütter: die eigene war krank und meist „leidend“; die Schwester war nun etwas entlastet, sie hatte genug Probleme mit der Umschulung von Bayern nach Niedersachsen, aber es gab nun Oma, Opa, Tanten, Kusinen, irgendjemand hatte immer Zeit für mich. Und dann war da noch meine „Vizemutter“, so nannte ich sie. Eine Nachbarin, kinderlos mit krankem Ehemann, der leider bald starb. Bei ihr und später sogar in ihrer Familie war ich mehr zu Hause als in meiner eigenen, in der – kriegstraumatisiert wie viele Eltern in der Nachkriegszeit – nur Zank und Streit herrschten. Meine Mutter war zwar von der Konkurrenz wenig begeistert, selbst meine Besuche bei den Verwandten ärgerten sie, (“erzähle bloß nichts, die wollen dich nur aushorchen”), vielleicht war sie auch eifersüchtig, konnte aber nichts machen: ich war früh daran gewöhnt, meine eigenen Wege zu gehen. Meiner „Vize-Mutter“ dagegen verdanke ich 6 unbeschwerte Kinderjahre, meine Kochkünste und viele Erinnerungen an Reisen mit ihr und „heile“ Familien.
Andere Mütter
Ich war 10 Jahre alt, so wie meine Schwester bei meiner Geburt, als auch meine Kindheit abrupt endete. Ein Umzug in eine andere, entfernte Stadt bedeutete für mich, dass ich nicht mehr so einfach zu Verwandten oder Vizemutter gehen konnte, es bedeutete Umschulung, neue Freunde finden, allein mit Mutter und Vater auskommen zu müssen- die mir fremd waren: ich dachte lange Zeit, ich sei ein Findelkind. Meine Schwester war zum Studium und Beruf längst aus dem Haus, geflohen kann man sagen: sie kannte noch ihre Vorkriegseltern, die ganz anders gewesen waren als meine Nachkriegseltern. Auch das Verhältnis zwischen ihr und mir wurde schwierig: ich war “aufmüpfig”, in der Pubertät und “frech”. Die Mutter war jetzt auch psychisch krank, Herzprobleme und Diabetes kamen hinzu. Das hieß für mich, in ständiger Sorge zu sein, sie nach der Schule noch lebend zu finden, zunehmend Aufgaben im Haushalt zu übernehmen. Da mein Vater wochentags in der Kantine aß, hatte meine Mutter wenig Lust, „nur“ für mich zu kochen: geh zum Bäcker und hol Kuchen, war ihre Lösung – sehr gesund für ihren Diabetes und für eine heranwachsende Tochter. Aber da waren die Mütter meiner Freundinnen: Mütter, die für ihre Familien sorgten, stolz auf ihre Kinder waren, sie unterstützten und mich oft in ihre Fürsorge einschlossen. Diese Mütter wurden mein Vorbild: „nur nicht werden wie meine Mutter“, und wenn schon Mutter, dann so doch so, wie die Mütter meiner Freundinnen!
Während mein Onkel sich gegen 5 übereifrige Mütter zur Wehr setzen musste, kann ich mich nicht beklagen: meine vielen „Mütter“ waren „nicht des Hasen Tod“, vielleicht sogar meine Rettung; ich habe ihnen viel zu verdanken, was ich leider nicht immer getan habe.