Meiner Wiener Tante

Drei Szenen, wie im Film

von Inge Kellersmann

Lang, lang ist’s her, als mein Vater Paul und sein Zwillingsbruder Sepp im Februar 1899 im Hochschwarzwald geboren wurden. Der kleine Bauernhof in Altglashütten bot kaum was her, und so mussten die Buben mit 14 Jahren in die Lehre: mein Vater bei einem Schmied, sein Bruder bei einem Schreiner.

Da die Kinder damals im Winter mit den Skiern zur Schule fuhren und der Feldberg nah ist, verdingte sich Onkel Sepp als Skilehrer. Dort lernte er einen Fotografen kennen, der ihm anbot, in seinem Geschäft zu arbeiten. Das war der Grundstein für seinen Beruf als Kameramann. Durch Fleiß und Ehrgeiz schaffte er es, auch mit bekannten Schauspielern Filme zu drehen. Er drehte auch viele Heimatfilme und machte als Naturfreund mit einer bewundernswerten Ausdauer viele Nahaufnahmen von Vögeln.

Er lernte bei einer der Drehs die Sängerin Hedda kennen, sie heirateten und zogen nach Wien. Wir trafen uns mal in Freiburg und auch mal in Wien und er sandte mir ab und zu Fotos mit Autogrammen von bekannten Schauspielern wie Peter Alexander. Wir trafen uns mal in Freiburg und auch mal in Wien. Hochbetagt starb er inWien. Nach der Beerdigung wohnte ich ein paar Tage in ihrer Einzimmerwohnung, die später nie verändert wurde. Ein Doppelbett, davor ein kleiner Tisch, zwei Stühle, ein Kleiderschrank, daneben der Fernseher, der jede Nacht mit einer Decke verhüllt wurde. Es gab noch Küche und Bad und eine Kammer. Dafür lag die Wohnung in einem schönen Bezirk, nah im Grünen und einem Heurigen, wo ich mit meiner Tante Hedda gern ein Glas Wein tranken. Wir haben uns gut verstanden.

In den kommenden Jahren fuhr ich immer wieder mal zu meiner Tante nach Wien, besuchte Museen und die Staatsoper. Abends durfte ich nicht lange wegbleiben, denn ich schlief im Doppelbett meiner Tante. Zu Mittag verwöhnte sie mich meistens mit einem zarten Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat.

Leider wurde ihr Gedächtnis immer schlechter, sie ließ den Schlüsselbund liegen (aus Furcht vor Einbrechern ließ sie mit der Zeit vier Schlösser einbauen). Eines Tages fand sie nach dem Einkauf nicht wieder heim, und sie wusste ihre Adresse nicht mehr. Als ich erfuhr, dass sie in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert wurde, fuhr ich sofort nach Wien.

Es war wie in einem Horror-Film. In einem großen Raum entdeckte ich unter gestikulierenden und schreienden Menschen meine kleine Tante sitzen. Leider erkannte sie mich nicht mehr. Dennoch ging sie dann mit mir in einen anderen Raum.

Da ich nicht blutsverwandt war, konnte ich nichts entscheiden, fand aber den gesetzlichen Betreuer, den ich bat, ein Heim für sie zu finden. Es klappte dann auch bald, und sie wurde in ein jüdisches Altersheim gebracht. Dort lebte sie dann ca. 5 Jahre in einem Zimmer mit acht Betten. Tagsüber saß sie in einem runden Gang und sang Wiener Lieder und Arien und erfreute die meisten Menschen damit.

Kurz bevor ihre Wohnung aufgelöst wurde, gelang mir der Zugang, um noch ein paar persönliche Sachen von ihr mitzunehmen. Ich fand u.a. eine Goldmünze in ihrer Küchenschürze. (Deiner Mutters Ehering ist zum Teil von dieser Münze). Ich fand dann noch das Sparbuch, das sie mir immer schon geben wollte. Ich fühlte mich dennoch wie ein Einbrecher. Aber dann wäre einiges verloren gegangen.

Anschließend fuhr ich zum Altersheim, um mit meiner Tante zur Bank zu fahren. Meine Tante sollte in einen Corbusier-Sessel Platz nehmen. Sie war so klein, dass sie dort hinein sank. Der höfliche Bankbeamte im dunkelblauen Anzug fragte natürlich nach dem Passwort des Sparbuchs. Meine Tante ist dement, sagte ich. Schade, dann wird wohl das Geld von uns eingezogen. Er spürte meine Enttäuschung und sagte dann zum Glück, dass ja manchmal der Kosename als Passwort gewählt wird. „Fragen Sie sie doch gleich mal“. Gesagt – getan: ich kniete vor meiner Tante nieder, um auf gleicher Höhe zu sein und fragte sie: “Wie hat Dich Onkel Sepp noch genannt?“ „Liebling, Schatz?” Mit verklärtem Ausdruck sagte sie: “Nein, Hasi”. Ich mit bangen Gefühlen zurück zum Schalter. Er: „Und. Wie nannte er sie? Ich: „Hasi“. Er: „Basst!“ Mit langen A und weichem B. Er zahlte mir das Geld aus, ich zitterte an der Grenze und legte es für alle Fälle einige Jahre in einer österreichischen Bank an und verteilte es später an meine Kinder.

Als ich damls in Münster lebte, rief mich das Altersheim an, dass meine Tante gestorben sei und sie eingeäschert wird. Sie hat frühzeitig die Beerdigung geregelt. Ich rief wegen des Termin das Bestattungsinstitut an, wann die Trauerfeier und die Bestattung sei. „Ja mei, gnädige Frau, dazwischen liegen schon fünf Tag“. “Das ist aber ungünstig, weil ich in Münster wohne. Geht es nicht zügiger?”, wagte ich zu fragen. “Was, in Münster? Ich hab gestern den Tatort aus Münster gsehn, der hat mir gfalln. Ich ruf sie wieder an”. 15 Minuten später. Er wieder mal, “es basst!” “Zwei Tag später kann man ihre Tant beerdigen”. Ich flog also von Bremen nach Bratislava und dann mit der Bahn nach Wien ins Hotel. Ich nahm ein großes Foto von meiner jungen hübschen Tante mit und stellte es in der Kapelle des berühmten Zentralfriedhofs vor die Urne. Wenn die Trauergemeinde vollzählig ist, soll ich Bescheid geben. Der zuständige Mann schaute mich fragend an, als ich ihm sagte, ich wäre allein.

“Dennoch kann die Feier auch schön sein”, meinte ich und fragte, ob die Sänger schon bereit wären. “Es gibt kein Gsang!” “Doch, in ihrem Abkommen wegen der Beerdigung steht das. Sie war Sängerin und hat, auch wenn sie es nicht hört, Anspruch darauf.” Er trat mürrisch ab. “Schauen Sie sich ein paar berühmte Gräber hier an und kommen sie in einer Stunde wieder”.

In der Kapelle begrüßte mich dann ein junger tschechischer Pfarrer. Ich allein nahm in der vorderen Bank Platz und betete mit ihm. Dann kamen tatsächlich drei Männer und sangen berührend das österreichische Lied “S´isch Feierabend…”. Mir liefen die Tränen.  Dann hielt ich eine Rede und erzählte über das Leben meiner Tante. Niemand hielt mich auf. Es war eine sehr persönliche Trauerfeier.

Am nächsten Tag in der Friedhofshalle warteten zwei Männer auf die Trauergemeinde, die wiederum nur aus meiner Person bestand. Ihr Wienerisch war so extrem, so dass ich nichts verstand. So gingen sie nun einfach los, die Urne in der Hand des einen, eine Schaufel in der Hand des anderen. Und ich erst dahinter, dann neben ihnen, bis wir zu dem Grab kamen. Er schaufelte ein Loch, legte die Urne ein und ich eine Rose und verabschiedete mich und war einfach nur traurig. Auf dem Rückweg kehrte ich ein typisch Wiener Gasthaus ein und bestellte natürlich ein Wiener Schnitzel. Es schmeckte längst nicht so gut, wie bei meiner Tante Hedda, Gott hab sie selig.

Liebe Grüße Deine Oma, die noch viel zu erzählen hätte aus ihrem Leben. Vielleicht können wir ja zusammen mal nach Wien fahren und in die Oper oder lieber ins Burgtheater gehen.

PS: Ich bringe dann noch ein paar Fotos mit von den beiden Wienern.