von Anonym*
Der letzte Weltkrieg brachte über Millionen von Menschen entsetzliches Leid, das selbst nach Kriegsende in der einen oder anderen Form nachwirkte. Ganze Familien fielen dem Kriegsgeschehen zum Opfer, wurden vernichtet, auseinandergerissen, Angehörige einander entfremdet. Für viele ist das alles lange vorbei und betrifft eine Zeit, mit der man doch eigentlich nichts mehr zu tun haben will. Manchmal jedoch holt einen die Vergangenheit ein. Nicht immer mit guten Nachrichten.
Mein Vater war trotz seiner Kriegsverletzung bis zuletzt eine stattliche Erscheinung. Mit seinem noch immer dichten weißen Haar, gleichwohl auf einen Gehstock angewiesen, wirkte er kräftig, ja massiv. Redegewandt parlierte er in perfektem Hochdeutsch, ganz anders als die Einheimischen. Immer über die Tagespolitik informiert, verlor er sich manchmal in den wenigen Gesprächen, die er auf der Straße führte, in endlosem Gequatsche. Er neigte zu Pathos, das oft durchtränkt war mit jeder Menge Altklugheit und Besserwisserei.
Meine Mutter wollte in solchen Situationen am liebsten im Boden versinken. Bloß nicht auffallen. Sie verkroch sich, wann immer es ging, zu Hause.
Flucht nach Westdeutschland
In dem weltabgeschiedenen Kaff, in dem meine Familie nach Ende des Zweiten Weltkrieges gelandet war, wirkten wir wie Fremde. Meine Eltern, die waren so ganz anders als die Alteingesessenen. Mir war das oft peinlich. Und das eben nicht nur, weil sie vergleichsweise alt waren: Vater war in den Fünfzigern, Mutter Mitte Vierzig, als ich das Licht der Welt erblickte.
In Pommern geboren und aufgewachsen, verließen sie vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ihre Heimat; mein Vater war Soldat und wurde versetzt. Nach Kriegsende und seiner Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft wollten meine Eltern eigentlich in den Norden, landeten aber wegen irgendwelcher Quoten in Rheinland-Pfalz. Bei Rüben und Reben, statt an der geliebten Küste. Meinem Vater war das trotzdem ganz recht, der Rhein würde es „dem Russen“ schwer machen, meinte er ganz zufrieden. Seine Angst vor dem „Feind“ war noch immer höchst lebendig.
Während ihrer Odyssee hatten sie fünf Kinder gezeugt. Ein Bruder, stattliche vierundzwanzig Jahre früher geboren, blieb im Westen Berlins, die älteste Schwester im Osten der Stadt. Eine andere Schwester fand in Rheinland-Pfalz ihr eheliches Glück und wohnte schließlich in einem Nachbarstädtchen. Nur mein sechs Jahre älterer Bruder und ich, der Spätgeborene, blieben noch im Elternhaus.
Die unbekannten Geschwister
Meinem ältesten Bruder begegnete ich nur während seiner jährlichen Besuche. Ich war bereits in den Zwanzigern, als ich meine im Osten eingeschlossene Schwester zum ersten Mal traf. Vertrautheit stellte sich bei keinem von beiden ein. Noch dazu dauerte es meist nicht lange, bis sich meine Brüder wegen irgendwelcher Nichtigkeiten in den Haaren lagen. Harmonische Idylle einer Großfamilie? Nicht bei uns. Erst recht nicht, wenn wir mal alle zusammen waren.
Der Krieg in den Köpfen
Trotz seines in der Öffentlichkeit zuweilen nonchalant wirkenden Auftretens war mein Vater ein gebrochener Mensch. Vermutlich würde man heute bei ihm, wie bei einem Großteil der Bevölkerung damals, das „Post Traumatic Stress Syndrom“ diagnostizieren. Er litt unter ausgesprochenen Stimmungsschwankungen, die nicht selten in Wutausbrüchen mündeten.
Nazi-Zeit und Krieg waren in den Köpfen meiner Eltern noch immer sehr präsent. Sie stritten häufig: Meine Mutter sparte nicht mit Vorwürfen, mein Vater verteidigte sich mit Argumenten, die ich hier nicht wiederholen möchte – so geschmacklos scheinen sie mir heute.
Das alles ist in meiner Erinnerung sehr verschwommen. Eigentlich interessierte mich der Grund ihrer Auseinandersetzungen nicht besonders. Als Kind und später als Teenager hat man andere Sorgen. Als ich anfing, mir ernsthaft die Frage zu stelle, wer meine Eltern eigentlich waren, lebten sie nicht mehr. Und das, was ich vorher über ihr frühes Leben erfahren hatte, blieb bruchstückhaft.
Pommernidylle? Von wegen.
Mein Vater war Landarbeiter, bevor er zur Armee ging, um dann dort Karriere zu machen. Ein einfacher Mann mit Volksschulbildung stieg zum Offizier auf. Meine Mutter arbeitete nach Abschluss ihrer Schulzeit in einem Haushalt, bei einer „Herrschaft“. Pommern-Romantik, wie etwa bei „Jauche und Levkojen“? Ganz und gar nicht. Armut und Willkür waren weitverbreitet, der feine Herr nicht selten ein Tyrann, die „Dame des Hauses“ nicht viel besser. Nicht jeder war ein gutmütiger „Gutsherr“, so wie er in irgendwelchen Kitschfilmen romantisierend dargestellt wird.
Meine Eltern lebten bereits in Berlin, als die ersten Kinder kamen. Ebenso Nazi-Herrschaft und Krieg. Meine Mutter betonte stets, mein Vater sei niemals Parteimitglied gewesen. Ich habe da meine Zweifel. Konnte man in der Wehrmacht aufsteigen, ohne in der Partei zu sein?
Mein Wissen darüber, wie meine Eltern diese Zeit überlebten, und besonders, was mein Vater so trieb, ist sehr beschränkt. Die Ansichten, die er nach Kriegsende noch immer vertrat, stimmen mich heute eher betrüblich, machen mich zuweilen zornig. Fragen nach anderen Familienmitgliedern, nach Opa und Oma, nach Onkel und Tanten, wurden meistens mit einem „sind alle gefallen“ oder „ums Leben gekommen“ beantwortet. Wie ich durch Zufall erfahren sollte, war das nur die halbe Wahrheit.
Unseren Familiennamen gibt es nicht so oft. Im Internet wird man bei der Suche danach aber durchaus fündig. Da sehe ich, dass er eben besonders oft im ehemaligen Osten Deutschlands vorkam. Oder dass viele Menschen mit gleichem Familiennamen heute in den USA leben.
Manchmal holt einen die Familiengeschichte ein
Eigentlich war die Vergangenheit kein großes Thema mehr für mich. Bis ich eines Tages in einem Zeitungsartikel im Zusammenhang mit Nazi-Verbrechen auf meinen Familiennamen stieß. Der Genannte war mir bei meiner eher sporadischen Suche nach Vorfahren in Dokumenten oder Aufzeichnungen schon mal begegnet. Allerdings war er zuvor auch nur irgendein „Name“, mit dem ich nicht viel anfangen konnte. Später, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass es sich in dem Artikel tatsächlich um jenen Verwandten handelte, sollte ich klüger sein.
Die Gefühle, die dabei erwachten, sind schwer zu beschreiben. Und die Frage, welche Rolle wohl mein eigener Vater spielte, folgte fast auf dem Fuß. In Gesprächen, die ich mit anderen Familienangehörigen oder Freunden suchte, hörte ich oft: „Lass doch endlich die Vergangenheit ruhen! Du hast doch nichts getan!“ Schlimm wurde es für mich dann, wenn jemand versuchte, den Schrecken der Vergangenheit einfach so wegzuwischen, frei nach dem Motto: Die Menschen hätten doch keine Wahl gehabt.
Nein, Schuld empfinde ich nicht. Trotzdem quälen mich manchmal Grübeleien, wenn es um die Vergangenheit meiner Familie geht, von der heute außer mir nur noch eine Schwester übriggeblieben ist. Besonders dann, wenn ich die heutige politische Entwicklung sehe, das erneute Erstarken extremer Parteien. Dann denke ich: Lernen wir Menschen nie dazu? Sicher ist es erträglicher, Unbequemes oder Schändliches zu verdrängen, Unbekanntes nicht zu hinterfragen. Vielleicht auch, weil wir, so wie ich, eigentlich so wenig über unsere Väter oder Großväter und deren Lebenswirklichkeit wissen.
Nicht ohne Folgen
Kriegskinder und -enkel leiden oft unbewusst unter Kriegsfolgen, sagen Psychologen. Eltern oder Großeltern geben vieles von dem weiter, was sie in schweren Zeiten erfahren haben, auch ohne das eigentlich zu wollen. Wir übernehmen Werte, Einstellungen, manchmal auch Vorurteile. Das oft genug, ohne sie jemals zu hinterfragen. Die Vergangenheit geht – vielleicht – nie ganz vorbei. Auch nicht die, die wir möglicherweise gar nicht kennen, die aber trotzdem auf uns einwirkt.
* Name ist der Redaktion bekannt