Kinderlosigkeit – das ewige Defizit

von Beate Seelinger

Kinderlosigkeit in der Bibel. Geschichten, die bis heute nachwirken.

Ich sagte es bereits: ich bin kinderlos und noch schlimmer – dazu auch noch ein Leben lang ledig geblieben! Ein Single, wie das heute heißt. Da wurde sogar ein eigener Begriff für dieses Phänomen geschaffen, was doch eigentlich annehmen ließe, dass es mehrere von dieser Sorte gibt. Gibt es auch. Es gibt sie scharenweise heutzutage. Der Begriff „Single“ ist im deutschen Sprachschatz auch allerorts angekommen und dort auch uneingeschränkt akzeptiert. Was sich aber dahinter verbirgt – oder auch gar nicht verbergen will – wird noch lange nicht überall und in allen Kreisen gebilligt. Man gibt sich zwar modern und redet von „Singles“, als sei diese Lebensform das Selbstverständlichste von der Welt – jedoch eine Frau ohne Mann und Kind! Zumindest auf dem Land hat sich das noch lange nicht in allen Köpfen als „unbedenklich“ festgesetzt. Auf dem Land geht man noch in den Gottesdienst. Und da können liberale Geistliche predigen, so viel sie wollen: in viele sonntägliche Kirchenbesucher will das einfach nicht rein, dass unverheiratete Kinderlose nicht verdammt sind.

Es sind keine offenen Angriffe, denen die Alleinstehenden da ausgesetzt sind. Jedoch latent bekommt man es zu spüren, dass man als kinderlose, unverheiratete Frau für defizitär, ja schlimmer, auch sündig, gehalten wird. Wie Sara, Rebekka, Rahel, Hanna, Elisabeth und all die anderen, ist man beinahe eine zu der Gemeinschaft nicht Zugehörige, weil man den Eltern keine Nachkommen verschafft und die Sippe nicht am Leben erhält. Wenn man doch wenigstens geschieden wäre! Oder im Zweifel auch Alleinerziehend! Aber nein – gar nichts! Kein Mann, kein Kind, noch nicht einmal ein Lebenspartner! Alles spricht dafür, dass so ein Leben egoistisch, sinnentleert, unerfüllt – kurz: vor Gott verfehlt ist. Und so jemanden meidet man am besten.

Wie war das in der Bibel?

Die biblischen Frauen, deren Schoß verschlossen blieb, trugen alle großes Leid. Nicht nur, dass ihnen die Freude am eigenen Kind versagt blieb, in den Gesellschaften der damaligen Zeit verachtete man sie, sprach man ihnen die Ehre ab, den Segen Gottes. Sara, Rebekka, Rahel, Hanna, die Frau Manoachs, Elisabeth – sie alle werden spät im Leben dann doch noch mit einem Kind gesegnet und erst dies macht die Gegebenheiten wieder heil. Wären sie kinderlos geblieben, wären sie mit einem Makel behaftet geblieben, wäre die gottgewollte Ordnung gestört. Alle sechs Bespiele beschreiben die gleiche Tragik und deren Auflösung. Frauen, die „sterben“, wenn sie kein Kind bekommen: „…Sie (Rahel) sagte zu Jakob: `Verschaffe mir Söhne! Wenn nicht, sterbe ich`“…, (Genesis 30,1) und deren „Schmach“ erst von ihnen genommen wird, als sie schwanger werden. Die Welt, die Familie, die Frau ist nicht heil, solange keine Kinder geboren werden. Indem Gott den Frauen letztendlich noch Söhne schenkt, bezeugt er – wenn auch erst spät – dass sie doch von ihm geliebt werden.

Ein verhängnisvolles Erbe

Dies ist das Bild, das bei vielen Bibellesern zunächst in Erinnerung bleibt, und dies ist das Bild, das sich im kollektiven Gedächtnis vieler Gläubigen festgesetzt hat. Kinderlosigkeit ist Schmach, bedeutet die Abwesenheit von Gottes Segen. Bedeutet ebenfalls: ein vor Gott nicht wohlgefälliges Leben, heißt es doch gleich zu Beginn in der Schöpfungsgeschichte: „…Seid fruchtbar und mehret euch, füllt die Erde…“, (Genesis 1, 28). Es scheint offensichtlich völlig gleichgültig zu sein, ob die kinderlosen Frauen ansonsten ein gottgefälliges Leben führen – ohne Nachkommen stimmt es einfach nicht. Erst mit der kompletten Konstellation Mann, Frau, Kind(er) ist das christliche Weltbild erfüllt.

Kinderlosigkeit durch Schuld?

Der Rückschluss, der aus dem eindrucksvollen Bild entspringt, das die unglücklichen Frauen hinterlassen, und der sich aus dem Wissen um deren unehrenhaften Stand in ihren damaligen Gesellschaften nährt, und der deshalb besagt, dass Kinderlosigkeit die Abwesenheit von Gottes Segen und damit Schuld bedeutet, ist jedoch ein nur oberflächliches Verständnis dieser biblischen Geschichten. In der Bibel ist Kinderlosigkeit nicht Schuld, sondern sie ist, ganz im Gegenteil, gottgewollt. Der Schöpfer erweist sich an ihr in seiner ganzen Allmacht, denn er kann das Unmögliche möglich machen. Und: er hört gnädig und barmherzig auf das Flehen der unglücklichen Frauen, sieht sie in und ist mitfühlend mit ihrem Schmerz. In der Geschichte um Jeftahs Tochter wird eine Frau durch ein Gelübde des Vaters zu einem Leben in Ehe- und Kinderlosigkeit sogar gezwungen. Für sie selbst bedeutet dies Trauer und Schmerz: „…Lass mir zwei Monate, dass ich hingehe auf die Berge und meine Jungfrauschaft beweine….“, (Richter 11, 30 ff). Gesellschaftlich verurteilt sie dieses Schicksal zu Schmach und einem Leben am Rande. Aus Gottes Sicht jedoch könnte man sogar von einer Bevorzugung sprechen, da ja ein Gelübde, sie Gott zu weihen, die Ursache für diese Entwicklung war. Könnte sie als Gott Geweihte eine von Gott Verworfene sein? Sicher nicht, und auch hier wird die gegensätzliche Einschätzung von Seiten der Gesellschaft und von Seite Gottes deutlich.

Was sagt das Neue Testament?

Johannes, Jesus und Paulus im Neuen Testament wählen freiwillig die Ehelosigkeit und Kinderlosigkeit, weil ihre Berufung für Familie keinen Raum lässt. Damit könnte das landläufige christliche Weltbild, das das Leben in Familie als einzig wahres Lebensmodell versteht, ins Wanken geraten. Natürlich, wer hat schon eine Berufung wie Johannes, Jesus oder Paulus vorzuweisen?! Jedoch gibt es offenbar Lebenswege – auch in der Bibel – die vom typischen Familienmodell abweichen. In der Tat geht Jesus – nicht nur einmal – sogar recht ruppig mit seiner Familie um. Es selbst sagt zum Thema: „…Nicht alle können dieses Wort erfassen, sondern nur die, denen es gegeben ist. Denn manche sind von Geburt an zur Ehe unfähig, manche sind von den Menschen dazu gemacht und manche haben sich selbst dazu gemacht – um des Himmelreiches­ willen. Wer es erfassen kann, der erfasse es…“,  (Mat. 18,11). Wie auch immer eine Interpretation dieser Aussage aussehen kann, so besagt sie doch, dass es menschlich ist, unverheiratet und kinderlos zu sein. Ausdrücklich werden Ehelosigkeit und Kinderlosigkeit nicht verurteilt, sondern als mögliche Variante – auch christlichen Lebens – dargestellt. Natürlich auch Paulus äußert sich zum Thema Ehelosigkeit, welches gleichgesetzt werden kann mit Kinderlosigkeit, (1 Kor. 7, 25 – 38). Er lobt die Ehelosigkeit ausdrücklich, da sie Freiheit für Gott lässt. Natürlich wäre es vermessen, zu sagen, dass alle Singles des 21. Jahrhunderts unverheiratet und kinderlos geblieben wären, um frei zu sein für den Glauben. Dem ist selbstverständlich nicht so. Heute ist es wohl eher so, dass im Normalfall unsere Gesellschaft unterschiedliche Lebensentwürfe zulässt und somit heutzutage immer mehr Menschen es wagen, das traditionelle Familienideal zu hinterfragen. Und so erkennt auch Paulus grundsätzlich die ehe- und kinderlose Lebensform als mögliche christliche an und schätzt sie, wenn sie denn auf Gott ausgerichtet ist.

Die jesuanische universelle Menschheitsfamilie

Man könnte sogar behaupten, dass Jesus selbst in seiner Botschaft das traditionelle Familienbild überkommt. Besagt sie nicht, dass der Christ in allen Menschen seinen Nächsten, mehr noch, seinen Bruder und seine Schwester zu sehen hat? Damit erweitert er den Familienbegriff sozusagen auf die gesamte Menschheitsfamilie, lässt die rigiden Grenzen der eigenen Sippe verschwimmen und lässt jeden zu Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Kind werden. Jesus wendet sich damit sozusagen revolutionär gegen die Vorstellungen der Gesellschaft, die sich in den Familien und Sippen vereinzelt und abgrenzt. In solch einem Gesellschafts- und Menschenbild haben Verheiratete und Unverheiratete, sowie Eltern als auch Kinderlose gleichberechtigt nebeneinander Platz und sind selbstverständlich auch vor ihrem Schöpfer gleichberechtigte Wesen.

Also dann…?

Schuld an der noch heute andauernden Misere der Unverheirateten und Kinderlosen ist somit nicht Gott, der sie verurteilt, und sind auch nicht sie selbst, weil sie Gottes Gnade vertan haben, sondern ist ein Teil der Gesellschaft, der vom Urteil nicht lassen will. Gott hat den Menschen als Individuum geschaffen, als eine Vielzahl von Individuen, und Gott ist die Vielfalt (in aller Einheit) und liebt die Vielfalt. Wie sollte er dann auf einem einzig wahren Lebensmodell für alle seine unzähligen Individuen bestehen? Letztendlich ist es der Schöpfer, der dem Leben des Einzelnen Richtung und Bestimmung gibt. Oft wird die Bestimmung erst am Ende des Lebens so richtig deutlich. Es ist genau Gott, der den Charakter, die Fähigkeiten und Neigungen seines Menschen besser als jeder anderer, besser als er selbst, kennt. Und sollte er da nicht das für sein Geschöpf speziell passende Lebensmodell auswählen und ihm zuschreiben? Gott ist gütig und er zwingt nicht  jeden in eine einzige für alle gleiche Form. Er lässt uns auch durchaus außerhalb einer Kernfamilie unseren Lebensweg gehen und erwartet nichts weiter, als dass wir in seiner großen Menschheitsfamilie unseren Platz finden und unsere Brüder und Schwestern uns ihn finden lassen.