Geschichte meiner fünf Mütter

von Friedel Mark

Geschichte meiner fünf Mütter

Weil sie interessant zu werden versprach, habe ich meine rein mütterliche Linie erforscht und mit den entsprechenden Geschichten aufgeschrieben. Tanten und ältere Cousinen halfen mir dabei und das von Dr. Hofmann von 1958 – 1970 geschriebene „Roßbacher Heimatbuch”.

Daten

Geschichten

Das Wissen in der Familie geht zurück bis zu meiner Urururgroßmutter Gertrud Hien, die 1773 in Riga als Deutsche geboren wurde. Sie soll eine ungewöhnlich schöne Frau gewesen sein. In Sankt Petersburg war sie Zofe der Zarin Katharina der Großen (Prinzessin von Anhalt-Zerbst; die von 1762 – 1796 Russland regierte).

Am Hofe der Zarin hat Gertrud Christian Scheibler kennengelernt. Dieser Mann (geboren 1739) hatte eine gutgehende Tuchfabrik in Stolberg bei Aachen im Rheinland und war von Katharina der Großen vielleicht so um 1790 nach Russland gerufen worden, um dort eine Tuchfabrik nach deutschem Muster aufzubauen. Das hat er auch mit seinen beiden Söhnen aus erster Ehe (mit Maria Elisabeth Stoltenhoff, die 1787 verstorben war) und zwar in Lodz, was jetzt zu Polen gehört, bewerkstelligt. (Noch heute gibt es in Lodz eine Scheibler-Allee).  Als die Fabrik gut lief, hat er sie seinen Söhnen überlassen und ist mit seiner neuen Frau, der jungen und schönen Gertrud nach Stolberg zurückgekehrt. Von der Kaiserin hatte Gertrud zur Hochzeit wertvollen Schmuck (Brillantgehänge und Ohrringe) erhalten, den sie mit ins Rheinland nahm. Er ist zum Teil heute noch bei Urur…Enkelinnen vorhanden (allerdings nicht bei mir).

Am 1.8.1795 wurde dem Paar dort in Stolberg eine Tochter geboren:

Maria Magdalena Scheibler.

Die napoleonischen Kriege vertrieben Chr. Scheibler und seine Familie wieder von Stolberg. Mit neun, mit Tuch beladenen Wagen machten sie sich auf den Weg Richtung Wien. Die Wagen fielen dem Feind zum Opfer, sie selbst (Chr. Scheibler, die Gattin Gertrud, die Tochter Magdalena, zwei weitere Töchter, ein Sohn und der Prokurist Rau) kamen gegen Ende des Jahrhunderts in Wien an, wo Scheibler eine neue Existenz gründete, jedoch bald erkrankte und deshalb den Prokuristen Rau um Fürsorge für seine Familie bat. Vermutlich 1800 ist Christian Scheibler gestorben. Nach Ablauf eines Trauerjahrs heiratete Ludwig Friedrich Rau die Witwe Gertrud. Sie bekamen noch mindest drei Kinder. Gertrud ist 1838 in Wien gestorben.

Magdalena hatte einen auffallenden Tatendrang. Schon als Kind wollte sie unbedingt Kaiser Napoleon sehen und durchbrach die Absperrung, indem sie unter dem Bauch eines Pferdes hindurchkroch. In Wien beim Einkaufen auf dem Markt lernte sie ihren Mann, Josef Hendel, geboren 1791 in Roßbach (Egerland), kennen und heiratete ihn 1819. Er war ein bedeutender Textilfabrikant und Gründer der bis 1946 bestehenden Firma Josef Hendel in Roßbach.

1819 bis 1830 wohnte Josef in Wien als Inhaber eines Verkaufsgewölbes. Dort wurden die in Roßbach von Hendel selbst und von anderen Fabrikanten erzeugten Webwaren (vor allem große Baumwolltücher – Umhangtücher und Stoffballen und kleinere, bunte Sack-, Kopf- und Halstücher, „Baumwolltüchl“) verkauft. Ende 1830 gab er dieses Gewölbe gesundheitshalber auf, kehrte mit seiner Frau, dem 9-jährigen Sohn Andreas, der 10-jähr. Emilie, der 7-jähr. Caroline und dem Baby Margarethe nach Roßbach zurück und verkleinerte den Betrieb vermutlich kurz vor seinem Tode -1842- als das inländische Tüchergeschäft nachließ. Seine Nachfolger beschäftigten aber immer noch 100 Erwachsene und 40 Kinder. Die Nachfolger in der Geschäftsleitung waren seine zwei Söhne – das Nesthäkchen Josef war allerdings erst 1834 geboren worden.

Es ist verständlich, dass es zwischen der in der Großstadt Wien aufgewachsenen Rheinländerin Magdalena und den aus Roßbachs Enge nie hinausgekommenen Frauen wenig Gemeinsamkeiten gab. Einmal, wahrscheinlich kurz nach ihrer Übersiedlung nach Roßbach, hat sie die Gemüter besonders stark erregt: Während alle Frauen immer noch die Tracht mit dem großen und kunstvoll geschlungenen Kopftuch mit den langen Fransen trugen, erschien Magdalena in städtischer modischer Kleidung und mit einem feschen Wiener Hütchen in der Kirche. Es wird berichtet, dass sich die Frauen vor lauter Schauen und Wundern gar nicht fassen konnten und dass an jenem Sonntag der Pfarrer stocktauben Frauenohren und glotzenden Männeraugen gepredigt habe.

Nach dem Tode ihres Mannes – die Söhne waren erst 22 bzw. sogar nur 8 Jahre alt – übernimmt Magdalena zusammen mit ihrem Schwiegersohn Christoph Rank (Mann ihrer ältesten Tochter Emilie, der auch derjenige war, durch dessen Bemühungen Roßbach 1850 ein Postamt erhielt und er die Bezeichnung „1. Postmeister“) die Geschäfte. Sie und Christoph wechselten sich in der Produktionsleitung (Baum­wolltüchel) in Roßbach und in den häufigen Reisen zu den großen Märkten in der ganzen K+K Monarchie (Triest, Linz, Klagenfurt, Laibach, Pest…..), wo sie ihre Tüchl vor allem an Hausierer verkauften, ab. Magdalene wurde dabei nur bange, wenn der Reisewagen in der ungarischen Pußta von heulenden Wölfen verfolgt wurde.

Ihren Lebensabend verbrachte Magdalena, bis sie am 17.8.1877 starb, am Garten­bahnelhof bei ihrer jüngsten Tochter Anna Margarethe Hendel („s’Retterl“), die 1830 noch in Wien geboren worden war. Diese Tochter hatte 1853 den Bauer Wolfgang Knöckel (auch 1830 geboren) geheiratet, der dank der Mitgift Margarethes die Fluren des alten Zapfhofes zu seinem Bauernhof hinzukaufen und damit seinen Besitz verdoppeln konnte. Der Gartenbahnlhof wurde der größte Hof Roßbachs. Margarethe wurde einmal gefragt: „Warum hast Du als reiche Fabriksbesitzerstochter denn einen einfachen Bauern geheitatet?“ Ihre Antwort: „weil er der schönste Mann von Roßbach ist.“ Wenn man das nicht emanzipiert nennen kann! Margarethe war auch eine begnadete Geschichten- und Märchenerzählerin. Wenn eines ihrer Enkelkinder krank war und im Bett liegen musste, dann war meistens die erste Frage: „Kommt jetzt die Großmutter zu mir?“

Margarethe gebar 1854, also mit 24 Jahren, ihr erstes Kind und dann 8 mal ungefähr alle 2 Jahre weitere Kinder, dann 4 Jahre Pause und dann – sie war da schon 44 Jahre alt – am 28.3.1874 als 10. Kind ein Mädchen: Karoline Knöckel.

Margarethe ist 1910 gestorben.

Karoline heiratete 1895 den Teppichfabrikanten Friedrich Uebel (geb. 1872) auch in Roßbach. Sie hatte mit ihm 8 Kinder, 4 Jungen und 4 Mädchen. Das vierte Kind, ein Mädchen, wurde im Januar 1903, nur 14 Monate nach der Geburt des dritten Kindes – Gertrud -, geboren und hieß Elise Uebel.

Karoline verbrachte ihre letzten Lebensjahre vor allem bei ihrer ältesten Tochter – meine Patin Hilde – in Berlin und ist 1956 dort gestorben.

Elise (also meine Mutter) war einige Jahre in Prag im Pensionat, wo sie nicht nur Klavier und Kunstgeschichte, sondern auch Englisch, Französisch, Schreibmaschine und Steno lernte. Sie war lange Jahre die Privatsekretärin ihres Vaters und reiste mit ihm u.a. in den „Orient“ (Türkei, Syrien, Ägypten…) und mehrmals nach Amerika. Sie zog das Berufsleben mit den interessanten Reisen zunächst dem Familienleben vor. Manch einem Bewerber wurde abschlägig beschieden – so auch 1927 dem Hermann Hilf aus Asch, einem guten Freund ihres Bruders Werner. Sie heiratete ihn erst nach dem Tode ihres Vaters mit fast 34 Jahren am 28.11.1936. Sie wohnten kurze Zeit in Adorf (Vogtland), wo meine Schwester Heidi 1938 und ich (1939 im nahen Krankenhaus in Asch im Egerland geboren) zunächst aufwuchsen. Als Jüngste wurde dann Gertraud 1943 geboren. Das war in Bad Elster (nahe Adorf). 1948 zog die Familie nach Memmingen, 1950 nach Kulmbach und 1954 nach Berlin. Elise zog mit Hermann 1969 nach Holzkirchen, wo sie 1986 starb.