von Cornelia Kutter
Beim Betrachten der alten Fotos kommen sofort die Bilder aus der gefühlt schrecklichsten Zeit meines Lebens vor 45 Jahren zurück:
„Clara, mach doch auf“. Jetzt wummerte sie schon wieder gegen die Tür und wollte sich einschleimen. Ich hasste Sahra wie die Pest.
Der Beginn des Höllentrips.
Eigentlich war ich ein fröhlicher Teenager von fünfzehn Jahren. Selbst als Papa zwei Jahren zuvor starb, haben Mama, meine ältere Schwester Christina und ich zusammengehalten. Unser gemeinsamer Trost-Slogan: wir sind eine Familie, stehen immer zueinander und nichts kann uns trennen.
Doch dann hat sich Mama in Andreas verliebt. Das war anfangs zwar ungewohnt und wurde kritisch beäugt, aber Christina und ich haben ihr das Glück gegönnt. Bis Andreas bei uns einzog und seine zwölfjährige Tochter Sahra aus seiner früheren Ehe mitbrachte. Wenn Intrige und Hinterhältigkeit einen Namen verdienten, dann Sahra! Sie überredete ihren Vater dazu, etwas mit ihr alleine zu unternehmen, weil wir angeblich keine Zeit hatten. Dabei wussten Christina und ich von nichts. Einmal verwüstete sie ihr Zimmer und behauptete, ich sei das im Streit gewesen. Wenn sie sich entschuldigen sollte, verlangte sie dafür eine Belohnung und die Versöhnung war trotzdem nur vorgetäuscht. Konnte es noch schlimmer kommen?
Stand die Welt still oder drehte sie sich noch?
Die Sommerferien begannen und Christina hatte ihr Abitur geschafft. Ich hoffte, mit ihr alleine irgendwohin verreisen zu können. Doch dann verkündete sie, dass sie die ständigen Streitigkeiten und Gemeinheiten endgültig satthat und zu ihrem Freund Patrik ziehen würde. Dafür brauchte sie aber Zeit und Geld, so dass ein gemeinsamer Urlaub nicht möglich war. Sollte ich jetzt die einzige Projektionsfläche für die Boshaftigkeiten von Sahra werden? Ich sah in dem Moment keine Perspektive mehr. Mama erkannte mein Elend und wollte dieses Mal mehr tun, als nur Streit zu schlichten. So kam es, dass ich Mamas Schwester, meine Patentante Isa, in Bayern die ganzen Ferien lang besuchen konnte.
Als Sahra das hörte, wollte sie unbedingt auch in den Genuss kommen und hat ihren Vater bekniet, er solle dafür sorgen, dass sie mitfahren dürfte. Ich hätte platzen können vor Wut und habe mich in meinem Zimmer eingeschlossen. Da wollte Sahra mich becircen und sich angeblich versöhnlich zeigen. Glücklicherweise durfte sie aber nicht mit.
Endlich Ruhe und Zeit zum Genießen.
Ich sah sie schon am Bahnsteig stehen, um mich abzuholen. Isa wirkte wie ein Model der Hippie-Zeit. Sie trug einen wallenden kunterbunten Rock, eine noch buntere Bluse und ein knallrotes zur Kordel gedrehtes Tuch um den Kopf. Sie redete ununterbrochen während der ganzen Fahrt und verbreitete eine ansteckende Lebensfreude. Ihr Zuhause war ein kleines Häuschen am Ortsausgang. Neben ihr lebten dort noch ihr Mischlingshund Charly und drei Hühner im Garten. Es wurde eine herrliche Zeit. Zwar musste Isa als freie Journalistin immer mal wieder ein paar Stunden arbeiten, aber den Großteil ihrer Zeit widmete sie mir. Anders als meine durchorganisierte Mutter war Isa chaotisch. Wenn wir eine Radtour machten, fiel ihr plötzlich ein, dass die Hühner noch nicht gefüttert waren und sie ihren Nachbarn anrufen musste, damit er das liebenswürdigerweise erledigte. Bei einer Wanderung sprang sie unvermittelt in einen Bergbach, um wie wild mit Wasser um sich zu spritzen. Es wurde nie langweilig mit ihr. Und wir haben stundenlang über uns, die Familie und Gott und die Welt geredet.
Kann Abstand die Perspektive verändern?
Isa erzählte, dass sie jahrelang keinen Kontakt mehr zu meinen Großeltern hatte, nachdem sie –zwar schon achtzehn- aber damals noch minderjährig mit ihrem Freund durchbrannte. Sie meinte, wenn man jung ist, möchte man von allen so akzeptiert werden, wie man ist. Aber umgekehrt fällt es schwer, auch die anderen so zu akzeptieren. Wir sollten uns immer überlegen, was wir haben, bevor wir Brücken abbrechen. Dass ihr die Familie einmal fehlen würde, hatte sie erst gemerkt, als die Beziehung zu ihrem Freund zerbrach.
Ich gab ihr zwar im Prinzip Recht, fand aber, dass Sahra definitiv nicht zur Familie gehörte. Schließlich war ich nicht mit ihr verwandt. Isa sah das anders. Bei einer engen Beziehung zweier Menschen bringt doch jeder Partner schon eine Familie mit, die dann irgendwie auch zu dem anderen gehört. Ich solle Sahra einfach nicht so ernst nehmen und mich gar nicht erst auf die Streitereien einlassen. Dann würde sich die Situation schon bessern. Außerdem könnte ich Isa jederzeit anrufen oder besuchen, wenn es mal wieder brennt.
Geduld ist nicht einfach, aber manchmal nötig.
Die Ferien näherten sich dem Ende und ich wollte dafür sorgen, dass der ganze Stress und die Probleme nicht wieder zum Alltag gehörten. Mit Mama verstand ich mich ja seit jeher sehr gut. Und Andreas war auch okay. Mit Christina hatte ich noch immer eine enge und liebevolle Beziehung. Also gab es nur eine Baustelle in unserem Zusammenleben. Ich befolgte Isas Rat und übte mich in Gelassenheit, was aber nach wie vor schwerfiel. So verging die Zeit und ich fieberte meinem achtzehnten Geburtstag und meinem Abitur entgegen, damit ich endlich ausziehen dürfte. Christina hatte mir angeboten, zunächst bei ihr und Patrik wohnen zu können
Spät erkennen ist besser als nie.
Wieder war ein Jahr vergangen und Weihnachten stand vor der Tür. Mama bestand darauf, dass die ganze Familie zusammen feiert. Sahra wirkte inzwischen gereifter und freundlicher. Auch half sie Mama in der Küche und machte sich nützlich. Bei dem Spaziergang am ersten Weihnachtstag sprach sie mich an. Sie wolle unsere Differenzen endlich aus der Welt schaffen. Ob ich es glauben könnte oder nicht, sie vermisste Christina und mich. Sie erzählte, dass ihre Mutter die Familie verlassen hatte. Lange glaubte sie, sie sei daran irgendwie schuld, was natürlich nicht stimmte. Danach gehörte die ganze Aufmerksamkeit und Liebe ihres Vaters nur ihr allein. Als sie ihren Papa plötzlich mit unserer Mama und uns teilen sollte und sie dafür auch noch ihr geliebtes Zuhause verlassen musste, habe sie nur noch Wut und Verzweiflung empfunden. All das hat sie auf uns projiziert und wollte, dass es auch uns schlecht geht. Mittlerweile hätte sie erkannt, dass wir ja gar nichts dazu konnten und eigentlich ganz nett wären. Sie hoffte, dass wir Frieden schließen und uns öfter mal treffen könnten.
Alles hat zwei Seiten.
Nach Sahras Ausführungen war ich zunächst baff, aber auch gerührt. Ich hätte das nicht von ihr erwartet. Nun musste ich mir und ihr eingestehen, dass auch Christina und ich nicht nur Engel ihr gegenüber waren. Für uns war sie ein Eindringling, der eigentlich nichts bei uns zu suchen hatte. Selbstverständlich erwarteten wir, dass sie sich unterordnet und akzeptiert, dass wir die älteren Rechte hatten. Das war unfair. Auch hatten wir nicht wirklich versucht, ein positives Miteinander zu finden. Ich gelobte fortan Besserung und sagte: „Jetzt sind wir wohl Schwestern. Willkommen in der Familie.“
Familie kann man sich nicht immer aussuchen, aber wir haben nur die eine.
Und dann erinnerte ich mich noch an ein Zitat eines mir unbekannten Autors: „Wir haben vielleicht nicht alles, was wir wollen, aber zusammen sind wir alles, was wir brauchen.“
Anmerkung:
Bei der Geschichte handelt es sich um eine autobiografische Fiktion. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind höchstens zufällig und nicht beabsichtigt. Auch wurde der Text ohne KI-Mitwirkung erstellt.
Quellen und weiterführende Links:
https://de.wikipedia.org/wiki/Familie
https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Haushalte-Familien/Glossar/familien.html
https://ms.sachsen-anhalt.de/themen/familie/familienratgeber/was-ist-familie
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Zusammenhalt (pixabay lizenzfrei von anemone)