von Martin P. Wedig
Namensgeschichte
Mein Familienname Wedig wird in China wie in Deutschland häufig falsch geschrieben. In China behindert dieser Umstand Flugreisen bei der amtlichen Kontrolle von Reisepässen und Flugtickets, in Deutschland die Nutzung von elektronischen Zugängen. Anlass für die Fehlschreibungen mögen Differenzen zwischen Aussprache „We-dich“ und Schreibweise „Wedig“ sein. In Deutschland ist der Name selten. Etymologisch leitet sich der Name vom niederdeutschen „Wedige“ oder „Weddige“ für „Waldläufer“ oder „Söhne des Waldes“ ab. In der Leipziger Universitätsmatrikel von 1468 wird diese Schreibung erstmalig erwähnt.1 Ein in der Nähe von Minden als Mons Wedigonis gemutmaßter Clansitz und eine Kölner Linie Wedig („We-dich“) sind die in Deutschland verfolgbaren Ursprünge des Namens. Genealogic.review listet 218 Familien mit Namen Wedig. Jeder 100.000ste Deutsche heißt Wedig. Diese Schätzung von ca. 850 Namensträgern stimmt in der Größenordnung damit überein, dass im Jahr 2023 ca. 1000 Einwohner mit dem Namen Wedig gefunden worden sind. Wedig ist mit Platz 6.908 auch ein seltener männlicher Vorname. Ein bekannter Träger dieses Vornamens ist Wedig von Heyden. Der Familienname Wedig wird in 179 Clustern in der BRD gefunden (Abb. 1). Ist der Familienname Wedig selten, so sind die Vornamen Johann und Maria im Stammbaum häufig und von Friedrich-Wilhelminischer Reihung geprägt.
Väterliche Herkunft der Familie
Meine Ahnen stammten aus Fürstenwalde im Kreis Ortelsburg Landbezirk 5 der Region Galinden in Ostpreußen nahe der polnischen Grenze (Abb. 2). In Fürstenwalde, einem Ort mit zuletzt 549 Einwohnern, bestellte die Familie auf einem Anbauhof des Schatulldorfes einen landwirtschaftlichen Betrieb im Besitz meines Urgroßvaters Aloisius. Die Einwanderung der Familie ist anekdotisch überhöht überliefert. Die Familie begleitete zu Fuß ihr Fuhrwerk zu ihrem neuen Landkauf und dem ältesten Sohn der Familie Johann war der Kaufpreis in Goldmark in ein Band seiner Kleidung eingenäht worden. So wussten alle auf ihren „Schatz“ aufzupassen. Er war die Zukunft und trug deren Sicherung bei sich.
Lebensbedingungen an der äußersten Grenze des Deutschen Reiches
Vor dem Ersten Weltkrieg war das von der landwirtschaftlichen Produktion in Ostpreußen gewonnene Einkommen äußerst bescheiden, wohingegen das Pro-Kopf-Einkommen im Deutschen Kaiserreich durch die Industrialisierung anstieg. Mangelhafte Vorflutverhältnisse (Beweisprotokolle der Willenberger Prästationstabelle 1824) minderten den Ertrag der versumpften Wiesen in Fürstenwalde. 2 Die geringe Zunahme der Bevölkerung spiegelt die Ertragslage der Gegend wider (Tab. 1).
Tab. 1: Bevölkerungswachstum durch Umverteilung während der Industrialisierung.
Quelle: https://ghdi.ghi-dc.org/sub_document.cfm?document_id=632&language=german
Staaten/Provinzen | annualisierte Zuwachsrate 1871-1910 (%) |
Ostpreußen | 3,2 |
Preußen | 12,6 |
Hessen-Nassau | 21,9 |
Deutsches Reich | 11,8 |
Erst in der Zwischenkriegszeit erreichte die Industrialisierung Städte wie Königsberg und steigerte das Einkommen in Ostpreußen. Regulierungsarbeiten der Vorfluter in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts steigerten die Nutzung der landwirtschaftlichen Flächen um 31%. Die Erinnerungen der Familie stellen demgegenüber den Aufwand der Urbarmachung von bewaldetem Boden heraus und betreffen in der Fürstenwalder Gemeinde eigene Anstrengungen zur Bodenverbesserung und zur Flächennutzung. Den 30er Jahren wird ein Ausbau der Infrastruktur mit konsekutivem Anstieg der Ladenhandel betreibenden Schankwirtschaften und Handwerksbetriebe zugeschrieben. Demgegenüber überliefern die familiären Erzählungen, dass Reparaturen und Ausbauten auf den Höfen mit nachbarschaftlicher Hilfe ohne Handwerksbetriebe geleistet worden sind.
Kindheit der Vorfahren
Die Kinder übernahmen altersgemäße Aufgaben auf den Bauernhöfen. Vor und nach der Schule mussten Tiere versorgt werden. Bei der Rangfolge um mit Ansehen verbundenen Hüteaufgaben entstanden Wettbewerb und Rivalität. Die Arbeit der Eltern auf dem Felde entfernte diese etwas vom Haushalt. Mein Vater soll daraufhin im Lauflernalter am Fell des Hofhundes geklammert den Eltern nachgegangen sein. Geschichten waren anstelle von Medien die Unterhaltung der Familie am Abend. Geschichten griffen den Alltag auf und spannten das Garn ins Phantastische. Anstatt Spotify zu hören, wurde musiziert. Es wurde auch aus der Bibel gelesen und gebetet – teilweise anstelle des Kirchganges. Kartenspiel bot Kurzweil und eigene Strategien an: Wer mitzuzählen verstand und Überblick über verbliebene Karten behielt, gewann.
Kriegseinwirkungen, Gefangenschaft, Vertreibung
Im Zweiten Weltkrieg starben 47 Einwohner (8,6%) von Fürstenwalde, darunter der jüngere Bruder meines Vaters als eines von 4 Geschwistern. Mein Vater und ein weiterer Onkel erlitten Verwundungen. Die Kriegserinnerungen der Familie sind von den gewaltsamen Übergriffen des NS-Regimes geprägt. Eine Schmugglerin war von Regimetreuen bei ihren mühsamen Anstrengungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes erschossen worden. „Beim Einmarsch der Russen wurden 5 Einwohner von Fürstenwalde ermordet, sieben starben auf der Flucht“ (Michael Baumgardt & Martin Radtke in 2).
Meine Großeltern und meine beiden Tanten verblieben nach der russischen Eroberung in Fürstenwalde. Als Spätaussiedler kamen sie mit der betagten Urgroßmutter nach Westdeutschland. Mein Vater und ein Onkel nach Kriegsgefangenschaft in Ägypten hatten in Herne Berufe gefunden und führten die Familie wieder zusammen. Kartenspiele, Kaninchenzucht, Kanufahrten waren Freizeitaktivitäten im Wirtschaftswunder BRD. Häuser wurden gekauft und renoviert. Ich lernte in meiner Familie, was die die Schule nicht beibringt: selber machen.
Familienbande und das Fremdartige
Meine Mutter, geborene Richter, stammte aus einer Bauernfamilie aus Weberschan in der Tschechoslowakei. Im Dorf meiner mütterlichen Großmutter in Seelbach an der Lahn (ca. 650 Einwohner und ca. 80% Protestanten in den 60er Jahren) verbrachte ich die Sommerferien auf der Liegenschaft der ehemaligen Schule. Nach dem Kirchgang zur katholischen Messe in Aumenau examinierte meine religiöse Großmutter den Vater und mich zur Predigt. Leider hatten ein toter Hirsch und der Fund eines Pferdezahnes unsere Aufmerksamkeit gebunden und vom Kirchgang abgehalten. So wusste mein Vater zwar einiges Passende zur Messe zu flunkern, doch ich flog völlig ahnungslos auf und unsere mangelnde Pflichtentreue wurde zum Gegenstand von Vorwürfen. Bei der Aushebung von Gräbern in Seelbach entdeckte ich einen kindlichen Schädel und mir wurde so bewusst, dass auch Kinder sterben. Eidechsen, welche ihren Schwanz abwarfen, machten mir andererseits klar, dass man sich dem drohenden Zugriff des Todes entziehen kann. Die Beobachtung des Dorfschmiedes, der noch Pferde beschlug, aber auch schon Autos reparierte, führte mir die Sonderstellung eines Berufes und auch meine mangelnde Eignung für ein Handwerk vor Augen, das Arme wie von „Popeye“ erforderte. Wo mein Vater die zahnärztlichen Künste ostpreußischer Schmiede zitierte, hätte ich mich von einem solchen Urian mit Pranken wie Schaufeln nicht behandeln lassen mögen.
Meine Eltern suchten ein Haus und zogen nach Dietkirchen bei der Bischofsstadt Limburg an der Lahn. In Seelbach an der Lahn wohnte die Familie einer mütterlichen Tante und in Lindenholzhausen gegenüber von Dietkirchen auf der anderen Seite der Lahn wohnte meine liebste Cousine, eine Meisterin im Mühlespiel. Ihr Vater, ein Schreiner und Tischler, hatte die Grundsteine seines Hauses mit seinem Motorrad zur Baustelle gebracht und nach der Montagetätigkeit sein Haus selbst aufgebaut. So wie es die alten Ostpreußen taten. Geschichten der mütterlichen Großmutter Maria über Opa Franz, in Geschichten „František“ genannt, knüpften Bande zum Zweig der Richters.
Freizeit und Schulzeit
Mehrere Katzen Mori und mein Spitz Teddy waren mir treue Gefährten. Wie meine Spielkameraden mit einem Mal an den Vormittagen verschwanden, folgte ich deren Wegen und landete in der Dorfschule. Dort vermochte ich dem Unterricht meiner älteren Spielgefährten zu folgen und berichtete meinen Eltern von meinem neuen Interesse, zur Schule zu gehen. Doch darauf musste ich noch ein Jahr warten. Dann kam die Mengenlehre und der Unterricht war mit einem Mal für Schüler wie Eltern schwer verständlich. Die Grundlagenkrise der Mathematik aus der Jahrhundertwende fand ihren Widerhall in den 60er Jahren. Da aber zwei Klassen in einem Raum unterrichtet wurden, konnte ich vom Unterricht des älteren Jahrgangs weiterhin profitieren und kriegte raus, wie man vom Zählen und Rechnen zur Mengenauffassung gelangt: Äpfelchen ins richtige Körbchen legen. In der zweiten Klasse war ich dann auf mich gestellt und mir gelang mein orthografischer Durchbruch eines fehlerfreien mehrseitigen Aufsatzes „Mein Ausflug ins Taunus Wunderland.“ – Eine kleine Rechtschreibfibel und eine Zeichenlehre waren meine Geheimwaffen im Wettbewerb um den passenden Ausdruck. Von der Zwergschule in Dietkirchen unter der fürsorglichen Hand meiner Lehrerin Frau Lemke wechselte ich nach deren Schließung zur Leo-Sternberg-Schule in Limburg und von dort zum Gymnasium Tilemannschule auf dem Schafsberg. Anfängliche Schwierigkeiten insbesondere mit dem Englisch-Unterricht, bei welchem mir meine Eltern nicht helfen konnten, behob der Lehrer mit Stimmproben des stimmhaften und stimmlosen „th“ (Ti-eitsch) und einfachem „Teach In“. Sein Tod machte mich sehr traurig, ähnelte er doch irgendwie meinem Vater. Hemmnisse mit der Bruchrechnung behalf mein Vater mit seiner auf Volksschulbildung beruhenden Rechenfertigkeit. Das Verständnis des „Ganzen“ war dann der Zugang und das Werkzeug zu den Teilgebieten der Mathematik. Mein Vater erklärte mir die Zahl PI und machte mir Begriffe wie „Raum“ und „Bewegung“ verständlich. Mit meinem besten Freund Hans-Jörg und zwei weiteren Primi gehörte ich zu den von der Klasse abgehobenen Nerds. Meine Lehrer erinnere ich dankbar. Ich sog ihre Lehre auf und verband sie mit eigener Lektüre, die mir mein Vater reichlich schenkte. Zu nahezu jedem Schulbuch besaß ich ein Zweitexemplar eines anderen Verlages. Die las ich so wie einen Karl-May-Roman und behielt die Geschichten und entdeckte Abweichungen in den Inhalten. Zum Studium fuhr ich mit meinem Schulkameraden zu Anfang pendelnd nach Mainz. Nach dem Praktischen Jahr am Krankenhaus Kemperhof in Koblenz zog ich wieder ins Ruhrgebiet. Onkel und Tante in Herne waren nach dem Tod meiner Eltern Elternersatz und boten mir familiäre Geborgenheit (Abb. 3). Hier fand ich Stellen zur Facharztweiterbildung, hier baute ich mein Haus und lernte meine Frau Shahnaz aus dem vorrevolutionären Persien kennen. Wieder verzweigte sich die Familie zu Ästen von Familien, welche ihre Heimat verloren hatten. Heimatverlust nicht nur als Emigration, sondern als komplette Tilgung eines Landes aus der Landkarte. Entnehme ich den Erinnerungen des „Heimatboten“ Wehmut und verklärende Erinnerung, so vermittelten mir die Erzählungen meiner Familien überwiegend eine lustige Zeit der frohen Kindheit mit fremdartigen Erlebnissen wie dem wagemutigen Sprung aufs Pferd aus der Höhe des Heuschobers, dem Ritt zum Galgenkreuz, Františeks Schalk in der Dorfschänke und der nachfolgenden Not des Krieges.
Nachfahren
Meinem Sohn Daniel erzählte ich neben den Volksmärchen, minimalistischen Zusammenfassungen von Schöpfungsmythen auch die Anekdoten meiner Familie. Neben PI lehrte ich dem kleinen klugen Kopf den Unterschied von Klein-Phi und Groß-Phi, wie ihn Bauern und wie ihn Mathematiker verstehen. Daniel erfand das Spiel von Knöchel & Knopf und schrieb mit ersten Kenntnissen von Buchstaben eine broschierte Geschichte über „Tinti, den Held“, einem blauen Tintenfisch-Plüschtier, Werbeträger der Firma Epson, das nach Verlust in Portugal mehrfache Inkarnationen durchlief. Gegenwärtig entdeckt Daniel die Gemeinsamkeiten der Sinnesorgane in Form der U-Deklination und Widersprüche von Leichnamen zu Atlanten der Anatomie. Und überhaupt wird nur das rechte Knie zur Demonstration von anatomischen Strukturen herangezogen. (;-)
Reflexion
In meiner Phantasie stelle ich mir das nicht mehr existierende Fürstenwalde als einen Ort auskömmlichen Wohlstandes vor. Man hatte Besitz und vermochte diesen zu gestalten und Nutzen daraus zu ziehen. Zu Seelbach erzählte mir meine Großmutter, dass dort nach dem Krieg die Not auf dem Fensterbrett gesessen habe. Und die Not stellte ich mir als dürre schwarz gekleidete Frau vor, die auf dem Fensterbrett sitzend in die Wohnungen starrte, wo die Menschen doch ein Stück mehr hatten als die in Not draußen vor der Tür (Abb. 4). Daten, Erinnerungen und Phantasien zeichnen recht unterschiedliche Bilder der Familia Wedig. Familien sind generativ in der Erhaltung ihrer Art und Eigenart. Wesentlich dafür ist die Erzählkunst.
Bei der Recherche wurde künstliche Intelligenz verwendet. Bruder Bing diente in seinem Job als Copilot als Suchmaschine und erstellte als Bing Image Creator eine Zeichnung. Die Gliederung erwuchs aus den freien Assoziationen des Autoren.
Dr. med. Martin P. Wedig, Herne
Abb. 1: Geographische Verbreitung des Namens Wedig in Deutschland (99. Zugriff auf den Namen Wedig am 24.2.2024)
Abb. 2: Liegenschaft des Aloisius Wedig in Fürstenwalde Kreis Ortelsburg in Ostpreußen. Aus: http://www.kreis-ortelsburg.info/030/fuerstenwalde.htm1
Abb. 3: Familie in Herne. Tante, Vater, Großmutter, Onkel, Tante und ein Bild, das aus dem Rahmen fällt.
Abb. 4: Schau aus Deinem Fenster. Quelle: Bing Image Creator.
1 https://dieweddigens.jimdofree.com/die-ahnen/
2 http://www.kreis-ortelsburg.info/030/fuerstenwalde.htm