Das Familientreffen

von Beate Seelinger

Heute ist Familientreffen,
es kommen Onkels, Tanten, Neffen –
alle, die man je gekannt,
einfach alle, die verwandt.

Der Anlass ist das Jubiläum
von Onkel Fritz und seiner Frau.
Die beiden feiern Gnadenhochzeit,
wenn auch die Liebe etwas lau.

Was heißt das schon, denn siebzig Jahre
hat man einander nicht verlassen.
Man ist gebeugt, hat weiße Haare
und heute heißt es: „Hoch die Tassen!“

Ihre Kinder, Karl und Walli,
haben alle eingeladen.
Herein jetzt endlich, dalli, dalli!
Schließlich knurrt gemein der Magen.

Martina, Stefan, Tom und Petra,
Markus, Birgit, Ralf und Lena –
auch die Enkel sind präsent,
die ja jeder hier lang kennt,
begleitet von der Kinderschar,
dem reichen Segen, das ist wahr,
des weiten Ururenkelreigens,
und für diesen hat man eigens
‘ne Kinderecke aufgebaut,
da recht lebhaft und auch laut. 

Martina mag die Petra nicht
und Stefan kann den Tom nicht leiden.
Tom ist auf Lena nicht erpicht
und Birgit möchte Ralf gern meiden.

Walli und Karl war dies nicht klar,
und nun sitzt die Feindesschar
dicht an dicht am Mittagstische
und streitet sich in alter Frische.

„Wir erziehen ohne Zucker.“
„Wir dagegen ohne Fleisch.“
„Reich` mir doch mal schnell die Butter!“
„Fleischlos macht die Kinder weich!“

„Fleischlos ist ein wahrer Segen,
unsre Kinder zahnen nicht.“
„Geht doch auf zuckerfreien Wegen,
sie haben ja zu viel Gewicht!“

Bei dem Disput hat man vergessen
die rege Ururenkelschar.
Die übt sich im Kräftemessen
und Fynn zieht Cousin Ben am Haar.

Der indessen tritt beherzt
Cousine Sophie, die`s verschmerzt
und stattdessen Chantal haut,
die ihr die Barbiepuppe klaut.

Oberhalb sitzt Alexander,
der schon immer Sozi war,
und man streitet miteinander,
ja, das ist doch sonnenklar,
ob Rot denn mit katholisch geht,
und Marx mit Jesus sich versteht,
und erbost ist Vetter Richard,
der neuerdings Rechtsaußen wählt,
was seiner Frau, der grünen Irmgard,
den Schlaf raubt und die Seele quält.

Es erklärt nun stolz der Pater,
der einst das Jubelpaar getraut:
„Ich geb` es zu, ich bin Veganer,
hab` Kohl und Rübchen angebaut.

Dieses dann erzürnt den Peter,
der auf Kölsch und Hämmchen steht,
und so manchen langen Meter
an Bratwurst zu verdrücken pflegt.

Rosalinde schwört auf Yoga
und bekniet den Onkel Fred,
dass nur ein einiges Europa
einem Herrn Trump stark widersteht.

Der doch will das Nationale
und lauter wird`s mithin im Saale.
Martina hat – es tut ihr leid –
Petra mit Wein durchnässt das Kleid,
und Stefan hat alsdann mit Kraut
dem Tom das Seidenhemd versaut.

Es ist ein Stechen und ein Hauen,
nicht nur die Männer, auch die Frauen,
und es kommt zum bösen Schluss,
als zu aller Überdruss
die jüngste Enkelin erscheint,
in ihrem Arm ein Säugling weint.

Man hat sich ewig nicht gekannt,
fragt sich, ob man mit der verwandt,
hat rotes Haar und pralle Lippen,
na ja, das gibt`s in allen Sippen.

Doch nun – wo ist der Mann, der Ring?!
So ein moralverlassnes Ding!
Ralf kann`s vor Abscheu gar nicht fassen,
man kann vom Zorn nun gar nicht lassen,
jetzt geht`s im Saal erst richtig los:
das junge Kind ist vaterlos!

Es schreit der Karl: „Klar, deine Tochter!“,
„Das Flittchen ist `ne  Schand“, so kocht er.
Und bemüht erbost die Bibel,
die Walli heult wie eine Zwiebel.

Es fliegen Teller, Gabeln, Tassen,
die Empörung schafft sich Raum.
Kein Grund, sich nun nicht geh`n zu lassen,
das Jubelpaar schnarcht leis` im Traum.

Endlich ist die Bagage erschöpft,
die letzte Flasche Sekt geköpft,
man macht sich heim mit blauen Flecken,
Walli fängt an, abzudecken.

Und als dann später Fritz und Frau
im Bette liegen – auch recht blau –
da sagt der Fritz: „Es war doch schön,
alle wieder mal zu seh`n
und eine Gnad`“, seufzt er bewegt,
„denn alle haben überlebt!“