Das Buch des Deserteurs

von Ute Lenke

Deutsch-Franz. Handwörterbuch 1805

So lag es vor mir auf dem Tisch: Zerschlissen, vielgenutzt offenbar, abgestoßene Ecken, brauner lederähnlicher Buchdeckel mit goldener Verzierung am Rücken und dem Titel „Französisch – Deutsches und Deutsch-Französisches Handwörterbuch“. 1805 erschienen, 1kg schwer, 445 vergilbte, stockfleckige Seiten innen und ein sorgfältig herausgeschnittener Namenseintrag.

Zusammen mit vielen anderen, alten und weniger alten, vielgelesenen, aber von den Erben der verstorbenen Tante ungewollten Büchern war es bei mir angekommen – für mich Bücherfreundin ein Familienschatz, den ich bis heute hege und pflege. Aber dieses Buch war mir dabei besonders aufgefallen: als „Handwörterbuch“ schien es mir etwas unhandlich. Wer brauchte so einen Wälzer, wem hatte es gehört, wie kam es in unsere Familie?

Der herausgeschnittene Namenseintrag

Das namenlose Wörterbuch war 1805 erschienen und wohl auch so um diese Zeit herum gekauft worden. Ein genauerer Blick in die Geschichte bringt uns vielleicht weiter, warum jemand damals in Ostpreußen – 1805 oder später- ein deutsch-französisches Wörterbuch brauchte und warum Verleger sich die Mühe machten – und finanziellen Erfolg versprachen –, ein Wörterbuch herauszugeben.

Meine Mutter hatte mir früher einmal etwas über ihre Familiengeschichte erzählt, das könnte zu dem mysteriösen Wörterbuch passen. Ihre Vorfahren waren Salzburger Protestanten, die in Ostpreußen Aufnahme gefunden hatten.

Die Spur führt uns in die napoleonischen Kriege zwischen Frankreich einerseits, Österreich, Preußen und Russland andererseits mit wechselnden Koalitionen. Preußen spielte keine besonders rühmliche Rolle in diesem Krieg. Das historische Ereignis, das Treffen zwischen Preußens Königin Luise und Napoleon in Tilsit und den tragischen Ausgang kennen vielleicht noch einige von uns aus der Schule, aus Romanen und Filmen.

Die Großmutter meiner Mutter, also meine Urgroßmutter, war eine geboren Dursell oder auch D´ Ursell geschrieben. Der Name klingt französisch. In der Tat geht die Sage, so erzählte meine Mutter, ihre Großmutter sei die Tochter eines napoleonischen Soldaten, der während irgendeiner der Schlachten in Ostpreußen „hängen“geblieben war, vielleicht verwundet, vielleicht der Liebe wegen – wer weiß. Damit befand er sich aber auf gefährlichem Boden: Als Franzose in Ostpreußen – das war Feindesland, für seine Landsleute war er Deserteur, für Preußen oder Russland Spion. Zudem soll er adeligen Geblüts gewesen sein, einziger Sohn seiner Eltern, mit ihm erlosch somit die Familie, und der Stammsitz ist seitdem im Besitz des französischen Staates. Wegen dieser brisanten, durchaus gefährlichen Lage hatte der Urahn testamentarisch verfügt, dass alles, was auf seine Herkunft deuten könnte, nach seinem Tod zu vernichten sei. So geschah es auch. Seine Grabstelle ist wegen der späteren Weltkriege mit Russland nicht mehr aufzufinden. Alles, was blieb von ihm, ist das Deutsch-Französische Wörterbuch mit dem herausgeschnittenen Namen und ein Namenseintrag im „Ahnenpass“ meiner Eltern.