Wurzeln? Wir sind doch keine Pflanzen!

von Peter Schallock

Entwurzelte Menschen? Meist fallen uns dabei sofort menschliche Tragödien ein:  Vertreibung, Flucht, Suche nach einem Ort ohne wirtschaftliche Not. Menschen, die ihr altes, gewohntes Leben hinter sich lassen mussten. Die gar keine Wahl hatten. Aber es gibt auch Zeitgenossen, die sich bewusst dafür entschieden, irgendwo anders neu anzufangen. Für die Entwurzelung auch ein Akt der Befreiung sein kann.

„Meine Wurzeln liegen im Westfälischen!“ Wie sagt uns das, wenn einer seine Wurzeln in einer bestimmten Region hat? Ist der Westfale besonders bodenständig, derb, beharrlich, oder doch eher halsstarrig? Oder alles zusammen? Klischees, zweifellos. Aber beliebt sind sie, und gerne bemüht werden sie trotzdem. Der Norddeutsche ist wortkarg, der Bayer heimatverbunden und katholisch. Der Schwabe ein in seine Mundart verliebter Tüftler, der Sachse hat zur Zeit ein Imageproblem. Sag‘ mir wo du herkommst, und ich erkläre Dir, wer du bist.  Hoch leben die einfachen Antworten.

Ich mag solche Erklärungen nicht, sie ignorieren individuelle Lebenswege. Und können im Extremfall, wenn „Blut und Boden“ ideologisch verbunden werden, sogar gefährlich sein. Der Mensch ist doch viel mehr, ist das Ergebnis von „nature und nurture“ , wie man im Englischen sagt, also von Veranlagung und Umwelt. Und hat ein ganzes Leben Zeit dazu, sich persönlich weiterzuentwickeln.

Wenn der Job anderswo ruft

Vor einiger Zeit hatte ich das Glück, einige Jahre – berufsbedingt – im Ausland leben zu dürfen. In einer Stadt, in der zahlreiche Banken, überstaatliche Institutionen und internationale Firmen ihren Sitz haben. Wahrscheinlich ahnen Sie bereits, wo das ist. Dort habe ich die Fünf, um die es im Folgenden gehen soll, kennengelernt. Als Kollegen oder einfach nur Bekannte, wie man so sagt. Und noch immer pflege ich regelmäßigen, wenn auch unterschiedlich häufigen Kontakt zu ihnen. Weiß also, was aus Ihnen geworden ist.

Theo, den Westfalen, habe ich schon erwähnt.  Da gibt es noch Barbara, Laura, Heinz und Rolf. Die Namen habe ich ein wenig geändert, aber das spielt keine Rolle. Alle kamen aus unterschiedlichen Gebieten Deutschlands in jene Stadt. Bis auf Rolf, der in Grenznähe aufwuchs, und der Liebe wegen auf die andere Seite der Grenze wechselte, waren es überwiegend berufliche Gründe, die den Neuanfang auslösten. Aber keiner, das betonen sie alle, war dazu gezwungen, keiner flüchtete vor irgendwelchen Umständen.

Und als Rentner?

Theo und Heinz sind noch berufstätig, aber die Pensionierung liegt nicht mehr in weiter Ferne. Heinz hat noch keine konkreten Pläne, was seinen Ruhestand angeht. Er möchte aber zunächst im Land bleiben, fühlt sich wohl hier. Theo zieht es in die Nähe seiner Tochter, die im Bayrischen gelandet ist. Laura ist bereits in Rente. Sie hat sich nach dem Tod ihres Mannes ihren langgehegten Traum erfüllt und ist an die Ostsee gezogen. Sie bezeichnet die Menschen in ihrer neuen Umgebung manchmal etwas zugeknöpft. Sie mag Landschaft und Umgebung. fühlt sich aber noch nicht so ganz heimisch. Barbara ist ebenfalls Rentnerin; sie ist im Lande geblieben, hat sich ein Appartement gekauft.

Rolf hat in seinem neuen Heimatland – so nennt er es seit geraumer Zeit – geheiratet. Alle anderen sind ledig, geschieden oder verwitwet, leben aber zum Teil in neuen Beziehungen. Mit Partnern, die gleichfalls mobil genug sind, wie sie sagen, noch mal die Umgebung zu wechseln. Woanders Wurzeln zu schlagen.

Richtig integriert, so wie man sich das vorstellt, ist nur Rolf, der konsequent seine Vergangenheit hinter sich gelassen und die Staatsbürgerschaft gewechselt hat. Rolf redet nicht so gerne über seine deutsche Vergangenheit, warum auch immer. Um Missverständnisse auszuschließen:  Rolf ist ein sozialer, ökologisch denkender Mensch, keiner jener Dauernörgler, die an Flucht aus Deutschland denken, weil ihnen die Steuern zu hoch oder die Bürokratie zu umständlich erscheinen.

Rolf, hat wohl als Einziger neue Wurzeln geschlagen. Bei den anderen ist das weniger der Fall.  Keiner will jedoch zurück in die Orte, in denen Sie aufwuchsen.  Da läge doch ein ganzes Leben dazwischen. Dennoch, keiner kam mir jemals orientierungs- oder gar haltlos vor. Eher offen für Neues.

Der Anteil der Menschen die einen ausländischen Hintergrund haben, liegt in der Stadt bei 50%. Entwurzelt zu sein ist hier durchaus normal.  Mancher lebt vor sich hin, wird nicht wirklich heimisch, will irgendwann wieder abreisen, aber macht das dann doch nicht.

Heute hier, morgen da?

Mobilität ist heute angeblich wichtiger denn je. Der gutbezahlte Job klopft meist nicht an die Haustür. Aber manchen reizt auch die neue Umgebung, vielleicht die Großstadt, die nach der Enge und der sozialen Kontrolle des Landlebens Freiheit verspricht. Oder gar die Erfahrung im Ausland. Oder, später, im Ruhestand, die Nähe zu Kindern und Enkeln. Spielen da die eigenen Wurzeln überhaupt noch eine Rolle? Macht sich die Herkunft, die Prägung, die wir in frühen Jahren erhalten haben, immer wieder ungefragt bemerkbar?

Andererseits: Unser modernes, flexibles Leben und die Aufforderung, beinahe unbegrenzt mobil zu sein, verunsichern viele. So manche sehnen sich zurück zu Zeiten, in denen die Dinge noch überschaubar und die Zukunft absehbar waren. Wo man seinen festen Platz hatte. Identität ist in diesen Tagen ein wiederkehrendes Thema.

Traditionen, Brauchtum und anderes Volkstümliche haben Hochkonjunktur. Wir hegen und pflegen sie als wesentliche Teile unserer Kultur. Dialekte werden wieder gerne gesprochen, bezeugen Bodenständigkeit und haben jeglichen Geruch von Rückständigkeit verloren. Nein, wir wollen keinen globalen Einheitsbrei; wir wollen unsere Einzigartigkeit und Unterschiedlichkeit bewahren.

Für manchen sind das Luxusprobleme. Wer beispielsweise in sozial schwierigen Verhältnissen lebt, dem sind Traditionen des ihm umgebenden Menschenschlages egal. Dialektpflege? Eltern wird es wichtiger sein, dass ihre Kinder ordentliches Hochdeutsch lernen, irgendwann die eine oder andere Fremdsprache. Dialekte sind höchstens was für das Mundarttheater oder den „Dialektwettbewerb“ beim alljährlichen Kirchturmsfest.

Es liegt an uns

Wurzeln geben eben nicht nur Stabilität, sie halten uns auch fest, verhindern vielleicht Veränderung. Wie bei den Pflanzen: Die stehen manchmal in nährstoffarmer Erde, im ständigen Dunkel oder Halbschatten, ohne ausreichendes Licht, lassen kein richtiges Wachstum zu. Wurzeln zu haben, das klingt auch schon mal nach resignativer Endgültigkeit.

Aber wir sind keine Pflanzen, wir haben Beine, können uns entfernen. Nicht jeder kann oder will sein Leben lang am gleichen Fleck verharren

Im günstigen Fall rüsten uns Wurzeln mit einer positiven Lebenseinstellung aus, die für ein ganzes Leben lang Stärke verleiht. Im ungünstigen Fall sind sie eine Last, die wir lange, vielleicht für immer, mit uns herumschleppen.

Ein jüngst verstorbener Journalist, der erst in der Metropole Berlin aufblühte, bezeichnete seine ländliche Heimat als „Vorhof der Hölle“. Damit meinte er ausdrücklich nicht seine Eltern, die ihm im Gegenteil erst die Kraft gaben, der von ihm so empfundenen Enge zu entkommen. Fast schon paradox: Ihm die Kraft gaben, sich zu entwurzeln, zumindest genug, um ein anderes Leben anzufangen.

Wie wir mit unseren Wurzeln umgehen, ist eben immer auch eine individuelle Sache. Wer immer nur Sehnsucht nach Veränderung spürt, übersieht vielleicht das Liebens- und Lebenswerte, das manchmal ganz nahe liegt. Wer gegangen ist, aber immer nur das betrauert, was er zurückließ, bemerkt vielleicht nicht, was er dafür gewonnen hat.