Ein Fallbeispiel
von Barbara Heinze
Was heißt dass überhaupt: Entwurzelt? Was ist, wenn es erst gar nicht zum Einwurzeln gekommen ist? Ich denke hier an die Waisenkinder meiner Generation, nach Flucht und Vertreibung infolge des zweiten Weltkrieges, oder – aktuell – an die Kinder in der Ukraine: wieviele Kinder verbringen inzwischen teilweise bis zu zwei Jahre in Bunkern, Kellerräumen oder U-Bahnen wegen der unaufhörlichen Luftangriffe von Russland auf die Zivilbevölkerung, verlieren Elternteile, Geschwister, Freunde.
Mein Fallbeispiel aus meinem Freundeskreis, aber aus einer anderen Generation.
Margots Kind wurde in den Wirren des Kriegsendes im April 1945 gezeugt, der Kindsvater wurde danach als vermisst gemeldet. Margot, nun alleinerziehend, fand wenig Unterstützung im Elternhaus: denn wie kann man in so einer Situation überhaupt noch das Kinderkriegen verantworten, so die Reaktion ihrer Mutter. Und auch beim Vater fand sie wenig Hilfe, auch wenn Margot das Lieblingskind ihrer Eltern war, als einziges Mädchen unter 6 Geschwistern. Margot musste also Geld verdienen, durfte aber Ihr Kind nicht bei Ihren Eltern unterbringen. Damit zuhause nicht so viel “getuschelt” wurde über das “Bankert” erfolgte Ihre Entbindung in Bingen, ca 130 km von zu hause weg. Und dort brachte sie ihre Tochter Emma direkt nach der Geburt in einem Waisenhaus unter.
Dieses Waisenhaus war in einem Kloster untergebracht. Die Nonnen hatten nicht nur dieses Waisenkind zu versorgen, es waren viele Frauen in einer ähnlichen Lage wie Margot.
Dazu gehörten auch die Kinder von Vergewaltigungen oder aus Beziehungen mit der Besatzungsmacht. In diesem Kloster war wohl kurz nach Kriegsende gewährleistet, dass die Kinder nicht hungern mussten. Dieser Aspekt war wohl auch ein Grund für die Wahl dieses wirklich nicht sehr nahen Klosters.
Mit den Jahren söhnte sich Margot schließlich mit ihren Eltern aus. Emma bekam etwa 1mal im Monat Besuch von ihrer Mama, später auch gelegentlich von der Großmutter. Diese war meist in gedeckten Farben gekleidet und glich so eher den Nonnen im Kloster, deshalb fasste Emma bald auch Zutrauen zu ihr. Margots Freundin Hannelore besaß ein kleines Auto und übernahm wohl oft diese Besuchsfahrten: Damals brauchte man für die 130km vom Saarland nach Bingen zwischen 2 und 3 Stunden. Dieselbe Strecke musste dann noch am selben Tag zurückgelegt werden, denn an Übernachtungen gab es noch wenig Möglichkeiten, oder sie waren zu teuer.
Emma gefiel es gut im Kloster, es gab einen schönen Klostergarten. Sie erinnert sich auch an Kühe und Hühner. Gelegentlich machten die Nonnen mit den Kindern einen Ausflug an den Rhein. Unter den Nonnen hatte Emma eine “Lieblingsschwester”. Mit einigen Kindern war sie später befreundet, unter anderem mit einem “Negermädchen”. Es gab auch Spiele und Tänze. Emma erinnerte sich, dass sie einmal so wild mit einer Freundin “getobt” hatte, dass sie das Gleichgewicht verlor, auf den Steinboden fiel und sich ein Loch im Kopf zuzog. An den entsetzten Gesichtsausdruck der Nonne, die sich dabei über sie beugte, kann Emma sich noch gut erinnern. Trotz der Schmerzen tat ihr die persönliche Anteilnahme gut, das hat sie wohl nicht so oft erlebt. Besonders schön empfand Emma, dass die Nonnen ihre Arbeit oft mit Musik und Gesängen begleiteten. Bei den täglichen Andachten konnte es Emma kaum erwarten, den Klang der Orgel in der Klosterkirche zu hören.
Eines Tages bereitete man Emma auf ein großes Ereignis vor: sie durfte für den zu erwartenden Besuch die geliebten Kniestrümpfe mit Lochmuster anziehen, obwohl kein Feiertag war. Völlig unerwartet durfte sie mit den Personen mitgehen, die sie regelmässig besucht hatten. Sie würde dort auch bleiben dürfen. Wer war es denn nun, mit dem sie mitgehen durfte: die “Oma”, die für Emma vertrautere Person, denn diese hatte eine hellere Haut, weisse Haare und war dunkel gekleidet, oder die jüngere Frau? Es war aber diese andere Frau, die Emma mitnahm, also eine kleine Enttäuschung für sie. Erst auf der unendlich langen und ungewohnten Autofahrt ins Saarland wurde Emma wohl erst klar, dass sie nicht mehr ins Kloster zurückkommen würde und das Herz sank ihr “in die Hose”.
Im Saarland angekommen, bereitet diese andere Frau, von der ihr gesagt worden war, dass es ihre Mutter sei, das Abendbrot, bereitete ihr ein schönes Bett und deckte sie zu. In der Nacht musste Emma lange weinen: so weit weg von “zuhause”, alles so fremd. So fragte sie die Mama, ob sie zu ihr ins Bett kuscheln dürfe (offenbar hatte sie das bei den Nonnen schon erleben dürfen). Aber es wurde dem weinenden Kind nicht erlaubt. Am nächsten Tag folgte die nächste Enttäuschung: Sie erkundete ihr neues Zuhause: aber das war ja nur eine kleine Zwei-Zimmerwohnung! Wo blieben die weiten Flure und Treppenhäuser. Sie versuchte verzweifelt immer wieder in den Spiegel zu steigen, weil da noch eine andere Zimmerflucht lockte.
Im Saarland hat Emma aber endlich Wurzeln fassen dürfen. Nach dem Anfangsschock gelang es Margot bald, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Margot hatte es sich wohl sehr gewünscht, endlich ihr Kind zuhause zu haben. Ausserdem gab es die Grossfamilie: die Großeltern, Tanten und Onkel und deren Kinder. Besonders ein freudiges Ereignis hat Emma mit ihrem neuen Zuhause versöhnt. Wenige Wochen nach Emmas Ankunft im Saarland heiratete der jüngste Bruder von Margot. Mit diesem Hochzeitsfest erlebte Emma eine neue Welt: Die vielen Menschen, die herzlichen Worte, die Umarmungen. Die künftige Frau von Willi versicherte ihr wiederholt: sie dürfe so viel essen wie sie wolle: das war Emma noch nie passiert, sie konnte es gar nicht glauben.
Mit der Einschulung von Emma – das war wohl der Anlass für den Umzug von Bingen ins Saarland – kamen für Emma Mitschüler*innen, Lehrer und Freunde dazu. Margot umgab Emma mit viel Liebe, war aber im Vergleich zu anderen Müttern strenger und konsequenter. Am Ende wurde es eine vertrauensvolle Mutter-Tochterbeziehung, die bis zum Tod der Mutter andauerte.
Was ist Emma vom Klosterleben geblieben: die Liebe zur Musik, die Liebe zu Kindern, Toleranz gegenüber den Mitmenschen, und last not least der Glaube. Das Leben in Kloster war nicht mit negativen Erinnerungen behaftet. Im Gegenteil: Das Klingeln der glänzenden Monstranz, der Geruch nach Weihrauch und Myrrhe blieben ihr so im Gedächtnis, dass sie als Jugendliche gelegentlich eine katholische Kirche aufsuchte Da man aber damals als evangelische Christin katholische Kirchen nicht betreten durfte, schlich sich Emma heimlich in die Marienkirche und versuchte das Kreuzzeichen zu machen, um nicht aufzufallen. Dieses Kreuzschlagen hatte sie im Kloster offenbar nicht gelernt oder vergessen.
Emma glaubt, dass sie keinen seelischen Schaden genommen hat, weil Margot ihr gesamtes Leben nur auf sie ausgerichtet war und sie sehr umsorgt hat. Und das ist das, was Kinder am wichtigsten brauchen: Liebe und Anerkennung, um “Wurzeln” schlagen zu können.
PS
Über ihre Vergangenheit hat Margot mit ihrer Tochter NIE geredet, trotz wiederholter jahrelanger Nachfragen von Emma. Inzwischen wissen wir, dass diese Generation meist über ihre Erfahrungen im Nationalsozialismus und des zweiten Weltkriegs ihr Leben lang geschwiegen hat.