Vom Dorf in die Stadt

von Maria Schmelter

Seit meiner Pubertät war mir klar, dass ich dieses Dorf, in dem ich geboren war, verlassen wollte, um der Enge und der sozialen Kontrolle zu entgehen und mein eigenes Leben zu leben.

Mein Weg führte mich nach Darmstadt, um dort das Studium der Sozialarbeit zu beginnen. Mein Freund ebnete mir den Weg. Wir lebten die „neue“ Freiheit, wohnten zusammen, ohne verheiratet zu sein. Das war ein Affront für meine katholische Herkunftsfamilie.

Nun befand ich mich endlich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Doch ich erinnere mich an Sonntagnachmittage, da sehnte ich mich nach der Vertrautheit der todlangweiligen Familiensonntage. Ich rief zu Hause an und sofort kroch sie durch die Telefonleitung, die Langeweile, und trotzdem hätte ich Einiges dafür gegeben, jetzt dort sein zu können.

Alles war fremd und anders in Darmstadt. Es gab keine Nachbarn, die einen schon immer kannten, keine vertrauten Wege.

Ich war entwurzelt. Es war ein langer schmerzhafter Prozess, bis sich wieder zarte Würzelchen bildeten. Dabei half mir die Natur der Umgebung. Der Odenwald erinnerte mich in manchen Teilen an das Sauerland, woher ich kam und die Bergstraße war schon immer eine Landschaft, die ich liebte. Schwer tat ich mich mit der flachen Landschaft des Ried. Ich brauchte Hügel und Berge.

Meinem Hang zur Sesshaftigkeit machte ich in Darmstadt alle Ehre. Ich lebte fast immer im gleichen Viertel. Mit der Zeit wurde das für mich ein bisschen, wie Dorf. Ich kannte einige Menschen in „meiner“ Straße.   Als ich nun vor vier Jahren die Kündigung für meine Dachgeschosswohnung bekam, da war mein erster Gedanke, aber ich will doch nicht in ein anderes Viertel ziehen.

Ich hatte Glück und fand eine neue Wohnung, nur einen Steinwurf von der alten entfernt. Alle Wege, zum Markt, zu den Geschäften, zum Briefkasten blieben gleich und auf meinen Wegen treffe ich öfter Bekannte.

Tiefe Wurzeln habe ich geschlagen, aber hierzu war es nötig, mich zu entwurzeln. Seit über 50 Jahren lebe ich jetzt in Darmstadt und wann immer mich Freunde von weither besuchen, zeige ich mit Stolz „meine“ Stadt.