Ohne Wurzeln

von Vera Bümlein-Lees

Direkt an einer Hauptstrasse, inmitten von Unkraut und manchmal auch Müll, war meine Heimat.

Wir alle, meine Geschwister, Verwandte und Nachbarn bildeten eine enge Gemeinschaft. Alle von uns liebten es, wenn Passanten und Autofahrer Ausrufe des Entzückens ausstießen, wenn sie uns entdeckten. Hier hatten sie keine Tulpen erwartet. Ein wenig stolz, vielleicht sogar eitel, waren wir schon, wenn sie unsere leuchtenden Farben und die ungewöhnliche Form unserer Blütenblätter lobten.

Ja, hier fühlte ich mich wohl, hier war meine Heimat.

Schon bald, als ich noch so klein war, dass ich gerade in eine eigene kleine Zwiebel paßte, saugten meine Wurzeln das nahrhafte Wasser aus der Erde, so dass der Keim in der Zwiebel wachsen konnte, bis meine Blätter mir den Weg an das Tageslicht bahnten. Links und rechts von mir reckten auch meine Nachbarn ihre grünen Köpfe der Sonne entgegen. Fast zeitgleich öffneten wir unsere Knospen und entfalteten unsere leuchtenden Blütenblätter.

Doch nicht lange nach diesen glücklichen Augenblicken kam ein Mensch, um mit einem scharfen Messer unsere Stängel von den Zwiebeln mit den Wurzeln zu trennen.

Wir waren im wahrsten Sinne entwurzelt.

Doch dann schien es gar nicht so schlimm: wir wurden in eine Vase gestellt, welche lebenserhaltendes Wasser enhielt. Es war ihr sogar flüssiger Dünger hinzu gefügt worden, so dass wir ausreichend Nahrung erhielten.

Überhaupt ging es uns gar nicht so schlecht. Zusammen mit uns befanden sich Zweige mit kleinen grünen Blättern, fremd aussehende Blumen und sogar andere Tulpen mit in der Vase.

Es war echt interessant mit so vielen anderen Pflanzen zusammen zu sein. Auch wenn die Sprache der meisten anders, merkwürdig klang, unterhielten wir uns die ganze Zeit. Wir erzählten uns von unserer Heimat, unserem bisherigen Leben, unseren Zukunftsplänen. Nur verschwommen dachte ich noch an meine Heimat am Straßenrand. Ich fühlte mich in meiner neuen Umgebung zusammen mit den anderen Pflanzen wohl.

Aber irgendwann änderte sich alles. Es begann damit, dass mir schmerzhaft bewußt wurde, dass wir Tulpen weit voneinander gesteckt worden waren, während die Zweige eng bei einander stehend in der Mitte einen kleinen Busch bildeten. Dadurch drangen die Sonnenstrahlen weniger gut zu mir durch. Ich streckte mich so gut ich konnte und wurde tatsächlich auch immer länger. Bald war ich auf gleicher Höhe wie die Zweige. Manche überragte ich sogar. Weit entfernt entdeckte ich die anderen Tulpen, die ebenfalls versucht hatten, mehr Licht zu bekommen. Anfangs riefen wir uns kleine Botschaften zu. Aber dann wurde es immer seltener.

Ich, wahrscheinlich auch all die anderen, hatte plötzlich genug mit mir selbst zu tun.

Vielleicht ist mein Stängel durch die Länge geschwächt. Auf jeden Fall wird es mir zusehends schwerer, meinen Kopf hoch zu halten. Ich senke ihn mehr und mehr. Doch schon muß ich ihn immer tiefer hängen lassen. Dabei verliere ich einige meiner leuchtenden Blütenblätter.

Hinzu kommt, dass das Wasser nicht mehr die Nährstoffe enthält, die ich benötige. Ich vermisse meine Wurzeln, die sich auskennen und wissen, wohin sie sich wenden müssen, um das lebenserhaltene Wasser zu finden.

Ohne meine Wurzeln fühle ich mich hilflos und alleine. Ich merke, wie ich immer schwächer und schwächer werde.