von Beate Seelinger
„Magdalena will bauen!“ Keiner weiß, wie oft unser Nachbar dies in den vergangenen drei Jahren angekündigt hatte. Magdalena, seine Tochter – Juristin, wie er gerne mal nebenbei einfließen lässt – kennt man eigentlich weniger in unserem Ort. Sie pflegt morgens in aller Herrgottsfrühe in die nächstgelegene Großstadt zu fahren, offenbar, um dort ihrer Arbeit nachzugehen, und spät am Abend zurückzukommen. Ich hatte sie eigentlich noch nie bewusst gesehen. Magdalena hatte nicht zu denen gehört, die Anfang Zwanzig heirateten, doch nun hatte sie offenbar einen Lebensgefährten gefunden. Und mit dem wollte sie bauen. Wir hörten dies mit Beunruhigung.
Mit Beunruhigung deswegen, weil ihr Bauplatz, den der Vater ihr schon zu Lebzeiten vererbt hatte, unterhalb unseres Grundstücks lag und es sich bei diesem bisher um ein wunderbares Kleinbiotop mit uraltem Nussbaum inmitten gehandelt hatte. Was würde Magdalena daraus machen? Und was würde sich fortan vor unseren Fenstern und unserer Terrasse auftürmen?
Und nun war es offensichtlich soweit: Magdalena fing an, zu bauen. In aller Frühe war ein ausladender Lastwagen den Unteren Weg herab gerumpelt und hatte an Magdalenas Grundstück Halt gemacht. Heraus stiegen drei Arbeiter mit Helmen, die allerlei Gerätschaften abluden. Erst als ich kurz darauf während meines Frühstücks durch ein jaulendes, durchdringendes Geräusch auffuhr, wusste ich, was für Gerätschaften das gewesen waren und was die Glocke geschlagen hatte. Mit angehaltenem Atem schritt ich zum Fenster. Die behelmten Arbeiter hatten die Säge angelegt und erbarmungslos drang das Sägeblatt in den betagten Stamm des Nussbaumes ein. Ich sah den schönen, großen, majestätischen Baum, wurde mir gewahr, dass es das letzte Mal war, und Tränen liefen mir über die Wangen. Der Baum würde als lebendiges Wesen Empfindungen haben, ging es mir durch den Kopf. Bäume kommunizieren miteinander, das hatte man entdeckt. Bäume stecken voll Geist, das wussten schon die Alten. Was mochte in diesem Gehölz vorgehen? Sollte es sich nur um biologische Abläufe handeln? Oder hatte er „gewusst“, dass sein Leben zu Ende gehen würde und sah seinem Fall nun gefasst entgegen?
Derweil fraß sich das Sägeblatt tiefer und tiefer in den Stamm. Voll Furcht erwartete ich den Moment, in dem es krachen würde. Siebzehn Jahre lang war der alte Nussbaum nun mein Nachbar gewesen. Erasmus, meine Rabe, der sich jeden Morgen von meiner Terrasse eine Handvoll Nüsse holt, hatte in seinem Wipfel sein Habitat bewacht, und zwei Eichhörnchen hatten uns oft genug erfreut, wenn sie den Stamm hinauf Fangen spielten. Wohin gingen die nun, wenn Magdalena baute? Im Sommer hatte es im dichten Blattwerk gewimmelt von Vögeln aller Art und im Schatten seiner ausladenden Äste war der Rabe auf der Wiese herumstolziert und hatte nach Nahrung gesucht. Auch Elstern hatten sich oft eingefunden – sehr zum Ärgernis des Rabenvogels, der sie mit lautem Krächzen zu vertreiben suchte. Die metallisch-blauen Räuber waren allseits gefürchtet und oft hatte es heftige Luftgefechte gegeben, jedoch schön anzusehen waren sie dennoch. Wohin gingen die nun alle? Diese Gedanken wirbelten mir durch den Kopf, während die Säge weiter die einstige Stille des Wiesengrundstücks zerriss. Und dann kam der gefürchtete Moment: ein Ächzen, wie ein letztes, schweres Aufbäumen und dann das unvermeidliche Krachen – erst leiser, dann lauter, dann laut und schließlich ein prasselnder Aufschlag – dann Stille. Die Arbeiter hatten gute Arbeit geleistet, der Baum war in die eingeplante Richtung gefallen. Zufrieden nickten sie sich zu. Ich konnte es nicht fassen: der Nussbaum war weg! Einfach weg. Ein Stück Himmel tat sich nun zwar auf, jedoch blaffte dieses eher wie blanke Leere zu mir herüber. Da fehlte ein Stück Welt! Und das würden nachher, wenn die Arbeiter sich verzogen hätten und wieder vorläufige Ruhe eingekehrt sein würde, auch die Tiere so erleben. Ihr Zuhause war weg. Von jetzt auf eben – weg.
Nun kam der Bagger. Er setzte an, die Wurzel auszugraben. Das würde er nie in Gänze schaffen, dachte ich schadenfroh. Es dauerte lange, fast den ganzen Tag, und am Ende lag da ein riesengroßer Wurzelknoten neben dem inzwischen zerstückelten Stamm und Geäst. Sie hatten es geschafft – der Nussbaum war entwurzelt!
Magdalenas Haus steht inzwischen. Drei Stockwerke hoch, uns die Sicht ins Tal gegenüber fast ganz versperrend. In Fertigbauweise wurde es innerhalt eines dreiviertel Tages errichtet. Als wir morgens, vom Lärm geweckt, aufstanden, war das zweite Stockwerk gerade in Arbeit. Faszinierendes Werk, das die Bauleute da vollbrachten. Für uns ein Schock. Niemand hatte uns im Detail über das Bauvorhaben informiert. Von heute auf morgen ein großes Haus vor dem Fenster. Das war nicht einfach.
Erasmus ließ sich lange nicht blicken. Die anderen Tiere – wo mochten sie hin sein? Von dem Wiesenbiotop ist nichts übrig. Die Eichhörnchen wurden nie wieder gesehen, ihrer Heimat beraubt. Erasmus hat keinen festen Platz mehr. Mal sitzt er auf dieser, mal auf jener Antenne. Er hatte immer im Nussbaum gesessen. Nicht nur der Jahre alte Baum war entwurzelt worden, auch all die Tiere und Tierchen und all die Pflanzen um ihn herum mussten ihre Einbindung in das Wiesengrundstück kappen. Ich blicke über Dächer, während ich dies schreibe, und sehe zwischen diesen Dächern aus tönernen Ziegeln auf einer seelenlosen Antenne einen einsamen Raben sitzen. Noch immer trauere ich. Um den Nussbaum und mit dem Raben, und mit den Eichhörnchen, und mit den Vögeln, und mit den getöteten Pflanzen…
Natürlich durfte Magdalena bauen. Es war ihr gutes Recht. Wahrscheinlich hätte ich es auch getan, wäre es mein Grundstück gewesen und hätte ich das Geld dazu gehabt. Es geht nicht um Magdalena. Sie ist sogar tierlieb und ich sehe sie nun so gut wie jeden Tag. Sie beherbergt Katzen und neuerdings auch einen Hund. Und sie geht gut um mit dem Hund. Es geht darum, vor dem eigenen Fenster die Umweltzerstörung durch uns Menschen hautnah miterlebt zu haben. Miterlebt zu haben, wie ein in sich geschlossenes, paradiesisches System brachial in nur einem Tag zerstört wurde. Das macht nicht nur Magdalena. Das machen wir alle in der einen oder anderen Form. Es schmerzt, dies auf so brutale Art vor Augen gestellt zu bekommen. Es schmerzt mich, den Raben, die Eichhörnchen, die vielen Vögel, die Elstern und unzählige Pflanzen. Es schmerzt, weil es sich hier in der Tat um Entwurzelung handelt. Für viele Wesen – mal im physischen und mal im psychischen Sinne. Es schmerzt. Und es schmerzt den Geist, der in der Natur weht.