von Cornelia Kutter
Nichts währt ewig.
Der Baum dachte, dass er tief verwurzelt in seinem gewohnten Umfeld alle Zeit überdauern würde. Schließlich hatte er seinen festen Platz in der Gesellschaft aller Pflanzen in der Umgebung. Die Tiere des Waldes suchten unter seinen Blättern Schatten oder fanden Unterschlupf in seinem Geäst. Es fühlte sich also alles gut an. Ihm würde nichts passieren. Im Laufe der Zeit wurden die Lebensbedingungen jedoch schwieriger. Es regnete plötzlich viel weniger und der Boden trocknete aus. Seine Wurzeln hatten Mühe, um ausreichenden Halt zu finden. So nahm das Schicksal seinen Lauf. Eines Tages verdunkelte sich der Himmel, Blitze zuckten und es kam ein furchtbarer Sturm auf. So sehr der Baum auch versuchte, sich gegen die Naturgewalten zu stemmen, er hatte nicht mehr genug Kraft. So verlor er seinen Halt. Im Fallen riss er seine Wurzeln mit aus dem Boden. Dennoch wollte sich nicht aufgeben….
Das Märchen ging tatsächlich gut aus. Der Baum konnte neue Wurzeln schlagen und aus den alten Ästen kamen neue Triebe hervor.
Von Bäumen und Menschen.
Auch in Hans Witteborgs Gedicht „entwurzelt“ geht es zunächst um einen Baum. Aber es gibt noch eine zweite Strophe:
„so trifft auch wütiges
Schicksal Menschen,
die dem Druck nicht
widerstehen
entwurzelt in und von allem
schmerzende Erkenntnis
im hilflosen Flehen
kein Arm fängt sie auf
es gibt kein Zurück
entwurzelt entwurzelt entwurzelt“.
Schicksal.
Entwurzelt zu sein meint also, den Halt zu verlieren, wenn einem der Boden unter den Füßen entzogen wird. Sicher denken wir dabei zuerst an all die Menschen, die wegen Krieg oder Vertreibung ihr Zuhause verlassen mussten, und an die, die aufgrund von Naturkatastrophen ihr Hab und Gut verloren haben.
Mir fällt dabei aber auch eine andere Geschichte ein. Das alte Bauernhaus, in dem eine Familie seit vier Generationen lebte, wurde von einem Blitz getroffen und brannte komplett nieder. Menschen kamen dabei glücklicherweise nicht zu Schaden. Die zwölfjährige Tochter der Familie erklärte gegenüber einem Reporter: „Wir haben jetzt alle unsere Wurzeln verloren“. Das sagte so viel mehr aus, als hätte sie die Worte gewählt: „Wir haben jetzt kein Dach mehr über dem Kopf“.
Ohne geht es nicht.
Wir brauchen also unsere Wurzeln. Sie finden sich an Heimatorten, aber auch bei unseren Vorfahren. Fragen doch Adoptivkinder oftmals irgendwann nach ihrer Herkunft, nach ihren Wurzeln. Sehr beliebt ist heutzutage auch, den eigenen Stammbaum zu erforschen. Aber was hat es auf sich mit dem Verwurzelt-sein? Kinder entwickeln Wurzeln in ihrem Zuhause, wo sie sich geborgen und gut aufgehoben fühlen. Ändern sich aber die Lebensumstände gravierend, müssen wir uns -wie der Baum im Märchen- neue Wurzeln schaffen.
Eine Freundin von mir hatte vor langer Zeit ein tolles Jobangebot, für das sie jedoch mindestens zwei Jahre in die USA übersiedeln musste. Wir schrieben uns regelmäßig E-Mails oder telefonierten miteinander. Nach ihrer anfänglichen Euphorie klang plötzlich etwas Wehmut bei ihr mit. Auf mein Nachfragen antwortete sie: “Weißt du, die Arbeit ist super und auch meine neue Wohnung ist sehr schön. Aber ich muss hier erst einmal Wurzeln schlagen, damit ich mich richtig wohlfühlen kann.“
Mehr als ein Gefühl?
Meine Oma hatte das mit dem Wurzeln-schlagen so richtig drauf. Wenn ich ihr einmal nicht gleich folgte, pflegte sie zu sagen: „Kommst du jetzt endlich oder willst du hier Wurzeln schlagen?“. Das habe ich nie verstanden. Ich dachte als Kind immer, Wurzeln braucht man, um nicht umzukippen. Außerdem, was heißt eigentlich Wurzeln schlagen? Geht da jemand mit einer Axt los, um Wurzeln abzuhacken. Oma versuchte das so zu erklären: „Wurzeln schlagen heißt, man wird geerdet.“ Das verstand ich erst recht nicht.
Entscheidend ist daher wohl das Gefühl, verwurzelt oder entwurzelt zu sein.
Bei Freunden von mir wurde in ihr Haus eingebrochen. Zwar wurde kaum etwas entwendet, jedoch alles durchwühlt. Meine Freunde hatten danach ganz große Schwierigkeiten, sich wieder in ihren eigenen vier Wänden wohl zu fühlen. Irgendjemand war in ihr geschütztes Zuhause, ihre Intimsphäre eingedrungen. Es war, als hätte sich der Boden unter ihnen aufgetan. Von einem Moment auf den nächsten fehlte der nötige Halt. Meine Freunde fühlten sich entwurzelt.
Wir haben es selbst in der Hand.
Die eigenen Wurzeln zu verlieren, tut weh und ist oft tragisch. Aber es liegt an uns, wie es danach weitergeht. Augenscheinlich kann sich jedes Lebewesen neu verwurzeln. Wir dürfen nur nicht den Mut verlieren oder uns aufgeben.
Daher zum Schluss ein Zitat von Antoine de Saint-Exupery:
„Wenn dir etwas widerstrebt und dich peinigt, so lass es wachsen; es bedeutet, dass du Wurzeln schlägst und dich wandelst. Dein Leid bringt Segen, wenn es dir zur Geburt deiner selbst verhilft, denn keine Wahrheit offenbart sich dem Augenschein und lässt sich dadurch erlangen.“
Quellen und weiterführende Links:
https://www.e-stories.de/gedichte-lesen.phtml?197845
https://gutezitate.com/zitat/131284
https://www.beyourbest.at/sich-erden/