Ein Leben ohne Wurzeln

von Vera Bümlein-Lees

Zwanzig Jahre hatte sie in derselben norddeutschen Stadt gelebt, sogar zusammen mit ihren Eltern und Geschwistern in derselben Wohnung. Sie war dort zur Schule gegangen, hatte unter ihren Mitschülerinnen und in der Nachbarschaft Freundinnen gefunden. Zusammen mit ihnen erkundete sie die Umgebung und in langen Gesprächen erkundeten sie sich selbst. Später lernte sie mit den Freundinnen und den ersten Freunden die Orte kennen, an denen man am besten tanzen und bei einander sein konnte. Sie diskutierten über Bücher, über Filme und , wie man so sagt, über Gott und die Welt. Es war eine schöne Zeit.

Obwohl sie sich in ihrer Geburtsstadt wohl fühlte, entwickelte sich die Sehnsucht in ihr, auch andere Orte kennen zu lernen.

Nach dem Abitur ergab sich die Gelegenheit. Zum Studium zog sie in eine fremde Stadt, hunderte von Kilometern von ihrem bisherigen Leben entfernt. Den Kontakt zur Familie und Freunden hielt sie anfangs durch lange Briefe aufrecht, ein Telefon hatte so gut wie keiner, den sie kannte.

Doch je mehr sie in ihr Studium und in das Studentenleben eintauchte, umso seltener wurden die Briefe. Am Studienort entwickelten sich tiefe Freundschaften. In heißen Diskussionen wurde sie mit anderen Werten und Einstellungen vertraut; manche übernahm sie. Dadurch entfernte sie sich noch mehr von ihrem Leben der ersten zwanzig Jahre.

Die Verbindung wurde noch schwächer, als sie ihren Mann kennenlernte und heiratete. Durch ihn und durch einen nochmals erweiterten Bekanntenkreis wurde die Verbundenheit mit der Universitätsstadt noch stärker. Das nahm weiterhin zu, als sie dort ihre erste Arbeitsstelle hatte. Es war eine schöne Zeit.

Aus beruflichen Gründen zog es ihren Mann in den Süden. Dadurch, dass sie ihr erstes Kind erwartete, kündigte sie ohne großes Bedauern ihre Stelle und zog mit ihm in eine fremde Stadt in den Süden. Schon auf der Entbindungsstation lernte sie ihre erste neue Bekannte kennen. Noch mehr Bekanntschaften, vor allem mit Müttern, ergaben sich durch Spielkameraden der Tochter in der Nachbarschaft und später im Kindergarten. Kindergartenfeste und Kindergeburtstage wurden gefeiert. Es war immer etwas los. Um auch mit Erwachsenen ohne Bezug zu Kindern Kontakt zu haben, wurde sie ehrenamtlich tätig. Und irgendwann konnte sie auch wieder „richtig“ arbeiten. Ihre Tochter war im Kindergarten und bei einer Tagesmutter gut aufgehoben. Nach einem erfüllten Arbeitstag freute sie sich dennoch sehr, mit Kind und Mann zusammen zu sein, etwas gemeinsam zu unternehmen oder einfach das Zusammensein zu genießen. Es war eine schöne Zeit.

Wiederum aus beruflichen Gründen zog es ihren Mann noch weiter in den Süden. Dadurch, dass sie ihr zweites Kind erwartete, kündigte sie ohne großes Bedauern ihre Stelle und zog mit Mann und Tochter in die noch südlicher gelegene fremde Stadt.

In der vorherigen Stadt hatten sich zuletzt Freundschaften entwickelt, die sie auch aus der Ferne weiter pflegten. Zunächst besuchten sie sich noch manchmal und telefonierten regelmäßg miteinander. Doch irgendwann hörte das auf und jeder lebte sein eigenes Leben.

Ihr Mann hatte eine Stelle, in der er auch abends und am Wochenende arbeiten mußte. Oft war es erwünscht, dass sie ihn begleiten sollte. So lernte sie zwar in kürzester Zeit viele Menschen kennen; aber nur flüchtig. Manchmal, ohne deren Namen zu behalten. Eigentlich verband sie nichts. Auf die Entbindungsstation und danach zu Hause kamen fremde Menschen, um zu gratulieren und das Baby zu bestaunen. Es gab nichts Gemeinsames. Anfangs bereitete ihr auch der süddeutsche Dialekt einige Verständnisschwierigkeiten. Dies nahm natürlich im Laufe der Zeit ab; aber der Dialekt blieb fremd. Nach einiger Zeit lernte sie auch Eltern aus dem Kindergarten und aus der Schule ihrer Töchter kennen. Mit denen gab es gemeinsame Themen und auch Unternehmungen. Einige von ihnen wurden gute Bekannte, mit denen sie sich auch privat traf. Der private Bekanntenkreis erweiterte sich noch, als sie einige Ehrenämter annahm und Vereinen beitrat. Später, als die Töchter selbständiger waren, nahm sie in der nahe gelegenen Hauptstadt eine Stelle an. Mit einigen Arbeitskollegen verbanden sie bald eine echte Freundschaft. Doch am wichtigsten war ihr die Familie. Da ihre Arbeitszeit erst nachmittags begann und ihr Mann sich seinen Arbeitstag meist einrichten konnte, frühstückte die Familie in der Regel zusammen und traf sich auch zum gemeinsamen Mittagessen wieder. Sie erzählten sich, was sie Interessantes erlebt hatten oder was ihnen gerade auf dem Herzen lag. Dann ging ihr Mann und sie selbst zur Arbeit. DieTöchter machten ihre Hausaufgaben und trafen sich danach mit ihren Freundinnen. An den meisten Wochenenden begleitete sie ihren Mann zu Veranstaltungen. Inzwischen war ihr der Dialekt der anderen vertrauter geworden und sie konnte sich auch mehr und mehr deren Namen merken. Im Sommer unternahm die Familie lange weite Urlaubsreisen oder besuchten die Großeltern in den anderen Bundesländern. Eigentlich war es eine schöne Zeit.

Dann wurden die Töchter größer. Erst verließ die eine, dann die andere das Haus, um in einer anderen weit entfernt liegenden Stadt zu studieren. Kurz darauf beendete ihr Mann sein Berufsleben und auch sie hörte auf zu arbeiten, damit sie viel Zeit miteinander verbringen könnten. Sie besuchten ihre Töchter an deren Studienorten, kauften sich ein Wohnmobil, und unternahmen damit Reisen quer durch Europa. Von Island bis nach Südfrankreich; aber auch durch die neuen Bundesländer und entlang der Nordseeküste. Es war eine schöne Zeit.

Nach drei Jahren starb ihr Mann. Schlagartig wurde ihr klar, dass sie nicht mehr wußte, wo ihre Wurzeln waren, wo sie hingehörte. Dort, wo man seine Familie hat? Die Töchter und die Geschwister lebten verstreut, weit entfernt. Ihr Mann und ihre Eltern waren verstorben. Sind die eigenen Wurzeln dort, wo man arbeitet? Die Zeit der Berufstätigkeit war vorbei. Zwar traf sie sich einige Male im Jahr mit zwei ehemaligen Arbeitskolleginnen; aber es war eine Verabredung notwendig, es ergab sich kein regelmäßiges Treffen mehr. Sind die Wurzeln da, wo man die meisten Menschen kennt? Die meisten der Bekannten lebten seit Kindheit in dem Ort oder zumindest im Umkreis. Wenn, was meistens der Fall war, auch ihre Kinder in der Nähe wohnen geblieben waren, unterstützten sie sie, etwa bei der Betreuung ihrer Enkel. Auch suchten sie mehr und mehr die Nähe die Vertrauten ihrer Kindheit: Geschwister, das „Bäsle“ , die Freunde von den „Jahrgangstreffen“, alte Schulkameradinnen und tauschten mit ihnen Erinnerungen aus an die Schule, an die gemeinsamen Vergnügungen, an Menschen, die es nicht mehr gab und die in Häusern gewohnt hatten, die inzwischen abgerissen worden waren. Die Vertrautheit mit dem Leben und den Erinnerungen ihrer Bekannten im Ort fehlten. Zwar suchte sie hier die Heimat, doch die Wurzeln fehlten.

Auch sie hatte ja noch Töchter, die sie regelmäßig besuchte oder die sie besuchten. Doch es blieben Besuche. Spontanes gemeinsames Essen oder eine Verabredung zum Shoppen war nicht möglich. Als Ausgleich telefonierten sie manchmal täglich; zumindest gaben sie sich regelmäßig per WhatsApp ein Lebenszeichen. Die Töchter hatten sich an ihrem Wohnort eingerichtet. Dort war jetzt ihr Lebensbereich. Sollte sie wirklich den Vorschlag, zu ihnen in ihre Welt zu ziehen, annehmen?

Sie hatte auch noch eine Schwester und einen Cousin. Doch um sie sehen zu können, konnte sie nicht mal kurz die nächste Straße oder den nächsten Ort aufsuchen, sondern es brauchte einer Tagesreise zu ihnen.

Konnte man so wieder die Nähe verspüren, die das Aufflackern einer vergangenen Verwurzelung rechtfertigen könnte?

Dasselbe betraf genauso die Kontakte mit alten Freundinnen. Die meisten von ihnen waren im Norden geblieben, und lebten weiterhin in der Stadt ihrer Kindheit und Jugend. Manche waren zwar einige Orte weiter gezogen, behielten aber die Bindung zu einander. Bei einer Fahrt in den Norden konnte sie sich zwar mit ein, zwei treffen, wenn die gerade während ihrer Besuchszeit nichts anderes vor hatten . Sie waren sofort wieder miteinander vertraut. Doch fehlte ihnen die gemeinsamen Erinnerungen an die Zeit, als sie mit dem Studium fertig und ins Berufsleben eingetreten waren. Ihnen fehlte die gemeinsame Erinnerung an ihre Männer und der Familiengründung. Sie kannte nicht die Entwicklung deren Kinder.und jetzt der Enkelkinder. Sie hatte nicht ihre Freuden und ihre Sorgen mitbekommen. Höchstens nachträglich in Briefen. Telefonaten oder kurzen WhatsApp Nachrichten .

Reichte irgendeiner der vielen Orte, um dort wieder Wurzeln zu schlagen?