Diesen Wunsch erfülle ich mir: Eine Suche nach den Wurzeln

von Bärbel Niklas

Als Heidi auf dem Flughafen im Land ihrer Sehnsucht stand, hatte sie sich den Wunsch ihres Lebens im Alter erfüllt. Dieser Wunsch schlummerte Jahre in ihrer Brust. Er wurde in ihr geweckt an dem Abend, an dem sie ihrer  Mutter  freudig aufgeregt erzählte: „Heute, als mich Peter nach Hause brachte, hat er mich geküsst:“ Ihre Mutter nahm sie in den Arm und sagte nur: „Mein großes Mädchen.“ Eine kühle Reaktion auf das persönliche Erdbebenerlebnis, das Heidi meinte erlebt zu haben. Sie sang und trällerte vor sich hin und überhörte die Einladung ihrer Mutter, so dass sie nachfragen musste.

Es blieb nicht bei diesem einen Satz auf das Erleben der Tochter. Die Mutter forderte sie auf, setz dich hin. Heidi klopfte das Herz, was kommt jetzt? Aus dem Augenwinkel suchte sie im Gesicht der Mutter nach einem Hinweis.

 Eifrig räumte sie den Abendbrots-Tisch ab, säuberte das Geschirr und stellte es auch gleich in den Schrank, was sie sonst ungern tat.  Was fand meine Mutter plötzlich so wichtig, um mit mir am späten Abend noch zu reden, dachte Heidi.  Ich bin voller süßer Träume, eine Liebesmelodie spielt in meinem Kopf, ich habe einen Freund, der mich liebt.

„Gut, dass du aufgeräumt hast, schön.“ Heidi schaute ihrer Mutter nach, als sie das Zimmer verließ. Das war ungewöhnlich, dass sie ein verstecktes Lob aussprach. Was ist denn so spät noch wichtig? Morgen ist doch Sonntag, da kann sie doch mit mir reden.

Endlich saßen Mutter und Tochter am Wohnzimmertisch. In der Mitte stand eine Schale mit Süßigkeiten, Nüssen und Chips von der Tante aus dem Westen. Das irritierte Heidi noch mehr. Am liebsten hätte sie gedrängt, nun sag doch was ist so wichtig. Sie knetete ihre Hände unruhig im Schoß.

An diesem Abend erfuhr Heidi zu wenig, viel zu wenig um einen Lebenslauf ihres armenischen Vater zu erkennen.  Die kleine Dose mit dem Namen ihres leiblichen Vaters drückte die Mutter mit schweißiger Hand, wie ein heiliges einziges Vermächtnis in beide Hände ihres Kindes.  Der Krieg, die Bomben auf Magdeburg haben uns getrennt. Sie sah ihr kleines, jetzt großes Mädchen mit feuchten Augen an. Heb den Namen auf, vielleicht findest du deinen Vater, wenn du groß bist. Er hat sich auf dich gefreut.

Heidi schwirrte der Kopf. Einen Kuss und einen Vater habe ich heute bekommen, konnte sie nur noch vor dem Einschlafen denken.

Was sie zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte, es war das einzige Gespräch über ihren Vater mit der Mutter, die auch nie wieder auf das Thema zurückkam.

Heidi lebte in den Tag. Ein Freund, der klug war und sie anspornte zu lernen. Eine fleißige Mutter, die traurig war, dass sie nicht in ihrem Beruf als Fotolaborantin arbeiten konnte. Sie musste ihr Geld in einer Maschinenfabrik verdienen.

Elf Wochen später war alles anders. Jede nicht gestellte Frage konnte nicht mehr gestellt werden. Heidi wurde über Nacht erwachsen und fragte sich, hat Mutter geahnt, dass es höchste Zeit war mich über meine Herkunft aufzuklären?

Als Heidi dem schwarzen Auto hinterher sah, dachte sie an das Lied „Mamatschi, solche Pferde – solch ein Auto wollte ich nie!“

 Heidi hob das Leben in eine gefühlte Schaukel. Es ging auf und ab. Wenig Zeit zum Grübeln. Der Halt war ihr Glaube an Gott. Bald merkte sie, dass man als Vollwaise bedauert wird, aber bitte falle mir nicht zur Last.

Jahre vergingen. Der bedeutungsvolle Abend schlummerte immer in ihrer Brust. Je älter sie wurde, umso häufiger hinterfragte sie, warum habe ich mit meinem Temperament so viel Schwierigkeiten.  Wer wollte Auskunft geben? Die Verwandtschaft war durch den Krieg dezimiert. Keiner kannte die Verhältnisse der Mutter in Magdeburg. Nur eine Cousine lebte noch und die schämte sich für das, was sie wusste. Denn ihr Bruder war bei der SS und wollte es melden, dass seine Tante von einem Feind schwanger war. Das verhinderte glücklicherweise ihre Schwester. Heidi ging diese Bemerkung nie aus dem Sinn. Vollwaise mit vierzehn Jahren und zu wissen, dass sie beinah nicht auf die Welt gekommen wäre.

Das Lebens Karussell drehte sich, sie kämpfte für einen Platz im Leben; in der Gemeinschaft der Klasse, im Beruf und später als Mutter für ihre Kinder.

Sie war bereits Großmutter, da kam eine Enkelin, die mehr über den urgroßväterlichen Hintergrund wissen wollte, denn sie fand das großartig auch einen fremden Uropa zu haben. Da keimte die verschüttete Sehnsucht wieder auf nach der Frage, wer bin ich, wo sind meine Wurzeln, wo ist mein Vaterland?

Die politischen Zeiten änderten sich glücklicherweise friedlich. Gern hätte sie zu DDR-Zeiten die Silberhochzeitsreise in die Sowjetunion nach Armenien gemacht: Aus politischen Gründen abgelehnt.

Jetzt war es möglich. Der Taxifahrer fragte gut gelaunt, na wo soll es hingehen? Heidi antwortet hastig aufgeregt: nach Armenien. Von wo aus fliegen Sie? Es war ein preisgünstiger Flug von Köln nach Jerewan. Beim Aussteigen gab ihnen der Taxifahrer die Hand und wünschte gute Reise, grüßen Sie mir meine Heimat. Heidi sagte zu ihrem Mann: Wenn alle Männer so schmuck aussehen in Armenien, da verliebe ich mich vielleicht noch mal. Ihr Mann lächelte „überlege dir das genau“.

Jetzt standen sie in Jerewan auf dem Flughafen, dem Land ihres Vaters, in Armenien. Die Luft war schwer, legte sich ihr auf den Brustkorb, der immer enger wurde oder war es das seelische Gleichgewicht, das auseinander zu fallen drohte?

Vor dem Flughafen Taxi an Taxi, Heidi hatte die neckenden Worte an ihren Mann nicht vergessen. Sie schaute sich die Männer an. Der dort mit dem grünblauen Schal, mit kleinem Schnauzer, der sollte sie in die Abuvjanstraße bringen. Zu ihrem Mann sagte sie „der sieht aus, als wäre er der Bruder von unserem Taxifahrer zu Hause“. Als sie das Ziel in der Stadt angibt, wiederholte er es im guten Deutsch, da sagte Heidi spontan „ein Taxifahrer hat uns Grüße aufgegeben, er trägt genau den gleichen Schal wie Sie“.

Bei netten unbekannten Menschen lernten sie eine wunderbare Gastfreundschaft kennen. Streiften allein durch die Millionenstadt mit laut pulsierendem Leben. Schon das Überqueren der großen Hauptstraße konnte zur Katastrophe werden.

 Eine Sprache, die es nur einmal auf der Welt gibt, die ihr im Ohr wie Musik klang. Eigentlich hatten sie mit ihrem Schulrussisch fragen wollen, denn das Land gehörte zur Sowjetunion, aber keiner konnte, wollte russisch sprechen. Nur im Notfall half man aus. Noch schneller wurde reagiert, wenn man in Deutsch fragte. Viele Männer während haben in der  Sowjetzeit als Soldat in der DDR gedient,  haben  dadurch die deutsche Sprache  gelernt.

Heidi wusste von den Schwierigkeiten in dem armen und doch so steinreichen Land.

Das Buch von Franz Werfel die „Vierzig Tage des Musha Dag“ begehrte sie schon in der DDR. Eine Geschichte, die sie so berührte, dass sie nicht ganz ausgelesen hatte, weil sie niemanden kannte, mit dem sie dieses furchtbare Erlebnis  besprechen konnte. Heute stand sie mit ihrem Mann auf dem Berg Tzizernarkart am Genozid Denkmal und schaute auf die Stadt, schaute auf die Umgebung, schaute auf den so geliebten und verehrte Berg Ararat, der einst zu Armenien gehörte und heute nicht erreichbar ist.

Das war der Anfang einer nicht fertig geschrieben Lebensgeschichte. Heute weiß Heidi, wo ihr Vater beerdigt ist. Oder hätte sie es lieber nicht gewusst?

Ihr Vater starb 1996 in Nizza/Frankreich. Unfassbar, die Grenzen waren offen und einer Begegnung hätte nichts mehr im Wege gestanden. 2021 konnte Heidi sich mit ihrer Familie auf dem Friedhof symbolisch von ihrem Vater verabschieden. Ihr Herzenswunsch ist in Erfüllung gegangen.

Beitragsfoto: Der Ararat und die Skyline von Jerewan Foto von Serouj Ourishian (wikicommons)