Die Extraktion

von Beate Seelinger

Man kann nicht sagen, dass Zahnarztbesuche im Laufe meines Lebens eine besonders hohe Ausschüttung an Endorphinen in mir bewirkt hätten, jedoch war ein Besuch bei denselben für mich in der Vergangenheit auch keine schier unüberwindbare Hürde gewesen. Dies änderte sich nachhaltig, nachdem ich aufs Land gezogen war, ich notgedrungen einen neuen Zahnarzt brauchte, und ich diesen als einzigen am Ort auch fand. Besser gesagt eine ZahnärztIn, über deren wunderschöne Ölbilder in der Praxis ich zunächst mehr als angetan, über deren regelmäßige und bemerkenswerte Zuzahlungsforderungen ich jedoch sehr schnell recht verwundert war. Nichts desto trotz ging ich hin – es gab ja keinen anderen Arzt dieser Art am Ort – und Zahnarzt muss nun mal gelegentlich sein.

Es stellte sich jedoch heraus, dass diese Praxis mich sehr bald das Fürchten lehren sollte. Einmal wurde mir unter großer Anstrengung ein Zahn gezogen, worauf die Splitter desselben noch Wochen nach dem Eingriff durch das Zahnfleisch wuchsen.  Dann sollte mir irgendwann ein Abdruck genommen werden – und wurde auch – nur ließ sich die Abdruckpfanne anschließend nicht wieder vom Gebiss lösen und musste mit der Hilfe eines Assistenzarztes in einer höchst schwierigen Aktion im Mund mit einer Zange aufgebrochen und mühselig entfernt werden. Es dauerte ewig und war beträchtlich schmerzhaft. Die Nase endgültig voll hatte ich allerdings, als ich eine Zahnreinigung erlebte, die derart unsensibel durchgeführt wurde, dass ich unwillkürlich an Folter denken musste, und deren Auswirkungen sechs Wochen später immer noch deutlich zu spüren waren. Es läge an meinen Zähnen, sagte man mir, und ich ließ mich überzeugen und sah schließlich keine andere Möglichkeit, als alle Hälse der unteren Frontbereichszähne für viel Geld überkronen zu lassen. Letztendlich dann bewirkte diese weitere Erfahrung im dentalen Bereich die Überlegung, sich einmal nach einem anderen Zahnarzt umzuschauen.

In der nahegelegenen Großstadt wurde ich fündig. Nach erfolgreicher Internetrecherche stieß ich auf eine einladende Praxis in einer luftigen Altbauetage, gut zu erreichen und ohne ewig lange Wartezeiten. Ich war gespannt auf den Zahnarzt, der dazu gehörte. Abwartend saß ich zur Kontrolle und wegen einer wieder einmal fälligen Zahnreinigung auf dem Behandlungsstuhl und beschäftigte mich gedanklich mit den voluminösen Hinterteilen der großflächigen blauen Pferde auf dem Gemälde im Behandlungsraum. Meine Studien wurden rasant unterbrochen, als Prinz Harry hereinstürmte. Das also war der Zahnarzt! Ein jugendlicher Typ, jedoch so jung auch wieder nicht, ganz klar dem Royal gleichend. Was mich denn zu ihm führe, fragte er einnehmend, und ich entschuldigte mich umständlich, dass ich schon lange nicht mehr beim Zahnarzt gewesen wäre, weil verschreckt durch vergangene Erfahrungen, und dass eine Zahnreinigung nun aber dringend anstünde. „Machen wir, aber erst einmal Kontrolle!“, ordnete Prinz Harry an, und versah sich mit Gesichtsmaske, nachdem er mich sanft in eine Liegeposition verfrachtet hatte. „Soweit o.k., aber der Weisheitszahn unten links muss raus“, lautete die Diagnose nach eingehender Untersuchung. „Das könnte etwas schwierig werden, da der Zahn unter der Krone kariös erscheint, und da sich direkt daneben das Implantat befindet. Ich überweise Sie zum Kieferchirurgen, der wird Ihnen das machen.“

Prinz Harry schien ein Mann der klaren und prägnanten Entscheidungen zu sein. Kaum hatte er dies veranlasst, war er auch schon wieder aus der Tür, und ich wurde zu einem seiner Höflinge, einer mittelalten, sympathischen, angegrauten Dame begleitet – zur Zahnreinigung. So etwas hatte ich noch nicht erlebt: Ich spürte nicht das Geringste, man sagte mir, meine Zähne seien „ganz normal“, es wurde gereinigt, gesäubert und poliert, und als man mir den Spiegel vorhielt, war ich beeindruckt, dass ich in meinem Alter doch noch brauchbare Zähne vorweisen konnte. Ich war begeistert. Prinz Harry und seine Praxis sollten von nun an das Zahnarztpraxisteam meines Vertrauens sein.

Nun jedoch stand der Gang zum Kieferchirurgen an. Das Trauma, das ich mir in der Landarztpraxis zugezogen hatte, wirkte nach. Kurz gesagt: ich hatte den Auftrag, mich zu ihm zu begeben, Anfang Februar erhalten, und es zog sich hin bis zum Juli, bis ich endlich einen Termin ausmachte. Ich hatte keine Schmerzen und schob das Ereignis vor mir her. Dies erklärte sich eindeutig als die Folge jener traumatischen Erfahrungen, denn sonst und in der Vergangenheit war ich es gewohnt gewesen, solche Dinge so schnell wie möglich hinter mich zu bringen.

Schließlich wurde ich in die Klinik einbestellt. Ich betrat die Praxisräume des Kieferspezialisten an einem sonnigen, heißen Sommertag und freute mich über die wohltuende Kühle, die dort herrschte. Das Ambiente war beindruckend und ich nahm mir vor, noch einmal deutlich darauf hinzuweisen, dass ich Kassenpatientin sei. Das sei schon o.k. und Kosten kämen auf mich keine zu, versprach mir eine dem Team zugehörige, mit kaum wahrnehmbarem Akzent sprechende Ärztin. Sie hatte mich an der Rezeption schon erwartet, nachdem ich mir in der mit Code zu öffnenden Patiententoilette noch einmal die Zähne geputzt hatte. Sofort waren mir ihre nicht nur strahlenden, sondern sogar blitzenden, dunklen Augen aufgefallen, die sie zusammen mit ihrer Gesamtausstrahlung wie eine Gottheit inmitten ihrer um sie versammelten Mitarbeiterinnen hervorstechen ließen. Beruhigt und beeindruckt zugleich ließ ich mich auf dem Behandlungsstuhl nieder. Die Göttin mit dunklem Haar und funkelnden Augen brauchte drei Minuten, um sich den Schaden in meinem Kiefer anzusehen, und um mich dann mit einem kurz gefassten Statement zur bevorstehenden Extraktion zum Empfang zu verweisen. „Am Mittwoch!“, lautete mein Auftrag und brav gab ich den Terminwunsch bei der freundlichen Dame am Counter im Eingangsbereich an. Mittwoch war übermorgen. Im Stillen hatte ich auf einen Terminstau gehofft. Ein wenig flau war mir in Anbetracht einer Kiefer-OP doch. „Also dann bis übermorgen!“, gab mir die nette Dame mit auf den Weg, und geräuschlos schloss sich die weite Glastür hinter mir.

Zwei Tage später sollte sie sich wieder für mich öffnen. Die Zahn-OP stand an. Ich war früher da und wie beim ersten Mal war ich noch einmal in der eleganten Patiententoilette verschwunden, um mir die Zähne zu putzen. Ich ließ mir Zeit. Bis zum vereinbarten Termin war es noch über eine halbe Stunde. Als ich zurück zur Rezeption kam, stand dort wieder die Göttin in ihrer Corona von Zahnarzthelferinnen und wieder blitzten ihre Augen aus den anderen in der Gruppe hervor. Ich stotterte etwas von „…der Termin sei erst in einer halben Stunde…“, worauf sie ein derart gewinnendes Lachen aussandte, dass ich vergaß, weshalb ich überhaupt hergekommen war. „Dann wollen wir mal!“, forderte sie mich auf, und sofort war das Lachen einem ernsten, professionellen Gesichtsausdruck gewichen.

Im Behandlungsraum machte die Herrscherin über Mundspiegel, Zahnsteinkratzer und Zahnsonden nicht viele Worte. Gleich, nachdem ich mit Serviette und Mundspülung versorgt war, machte sie sich ans Werk. „Die Spritzen werden Sie ein wenig spüren, jedoch von dem Eingriff nichts“, klärte sie mich auf, wobei sofort wieder dieses umwerfende Lachen in ihren Augen stand und Freundlichkeit die Ernsthaftigkeit der Profession vertrieb. Bis die Spritzen wirkten, verließ sie den Raum und im Stillen beneidete ich den, dem sie ihre strahlenden Augen nun zuwenden würde.

Zehn Minuten später saß ich mit weit aufgerissenem Mund unter dem gleißenden Licht der OP-Lampe. Die Ärztin hatte mit Routine geprüft, ob die Betäubung wirkte und lachte mich nun an: „Sie brauchen den Mund gar nicht soooo weit zu öffnen!“ Erleichtert klappte ich das Gelenk etwas ein und die Prozedur begann. „Ist weg!“, kommentierte die Spezialistin, als sie der Assistentin, noch ehe ich überhaupt bemerkt hatte, dass sie etwas in meinem Mund unternommen hatte, mit einer Pinzette die abgelöste Krone reichte. Sie hatte mich nun endgültig überzeugt, dass ich mich in guten Händen befand und entspannt wie in Abrahams Schoß, lag ich in dem OP-Stuhl. Nun begann die eigentliche Extraktion. Ernste und hochkonzentrierte Augen beugten sich über mich. In meinem Mund wurde gehandwerkt. Ich wartete auf ein Ruckeln und Ziehen. Nichts dergleichen. Ich spürte jedoch, dass da im hinteren Bereich hart gearbeitet wurde. „Der Zahn bricht!“, berichtete die Ärztin. „Es könnte etwas krachen.“ Ich wartete auf das Krachen und überlegte, wie man einen zerbrechenden Zahn ziehen würde. Nach und nach beförderten die geschickten und routinierten Hände der schlanken Frau an meiner Seite Stückchen um Stückchen des Zahns ans Tageslicht. Zwischendurch fasste die Zange auch einmal den ganzen Stumpf und ruckelte sanft, aber entschlossen daran. Mit Erstaunen sah ich den Muskel im Unterarm der Kieferorthopädin anschwellen. Der war wahrlich trainiert! Ich erwartete den einen entscheidenden Ruck. „Es könnte krachen!“, bemerkte sie wiederum zwischen den knappen Anweisungen, die sie ihrer Assistentin zuwarf. Ich wartete auf das Krachen. Es krachte nicht. „Niemals neben einem Implantat schneiden! Nie!“, instruierte die Doktorin die Assistentin mit Nachdruck. Also wäre es jetzt offenbar an der Zeit, irgendwo einen Schnitt zu machen, dachte ich mir, und für einen Moment wurde mir mulmig. Dann jedoch sah ich wieder in die unaufgeregten Augen der Kapazität und meine momentane Besorgnis verschwand umgehend, während ich mich in deren Aura geborgen wusste. Sie würde das schon machen. Ich war sicher.

Weiter spürte ich, wie Stückchen vom Zahn abbrachen, dann wurde ein Bohrer eingesetzt und ich fragte mich, ob die Ärztin den Eingriff genauso unerwartet kompliziert empfinden würde wie ich. „Jetzt wird es ein bisschen laut!“, hatte sie den Bohrer angekündigt. Und: „Das ist die Wurzelspitze!“, wurde die Assistentin aufgeklärt. Ich schöpfte Hoffnung, dass ich es bald geschafft haben würde. Wenn man die Wurzel schon sah! „Der Zahn ist raus!“, strahlten mich die dunklen Augen da völlig unvermittelt, aber beinahe beiläufig an. Und sofort war es wieder da, das Blitzen und Leuchten – diesmal ein wenig triumphierend, jedoch gepaart mit Selbstverständlichkeit. Ich war platt! Gerade hatte ich mich auf eine weitere Viertelstunde Maulsperre eingerichtet und mir vorgestellt, dass die Extraktion offenbar doch etwas schwieriger verlief als angenommen, da war er raus, der Zahn. Entwurzelt! Die Ärztin hatte ihn Stück für Stück an Ort und Stelle zerlegt und hatte am Ende nur noch die letzten Bruchstückchen herausnehmen müssen. Ich hatte nichts gespürt, gar nichts! Dankbar strahlte ich sie nun meinerseits etwas schief an, soweit sich dies mit betäubter linker Mundhälfte machen ließ. „Wir müssen noch nähen, dann ein Sicherheitsröntgen und danach lassen Sie sich einen Termin für nächste Woche geben, zum Fäden ziehen!“, richtete die Koryphäe noch ein paar abschließende Worte an mich. Und ehe ich mich versah, war die Wunde vernäht, die Medizinerin verschwunden und ich ins Röntgenlabor geleitet. Ich konnte noch einmal das Funkeln in den fast schwarzen Augen bewundern, als mich die schöne Ärztin entließ. Ihr bis zum Herzen durchdringendes Lachen begleitete mich am Empfang vorbei, durch das weite Treppenhaus, über die unübersichtliche Kreuzung, in die Straßenbahn und auf dem folgenden Weg nach Hause. In den nächsten Tagen verheilte die Wunde gut und ohne Komplikationen und am Mittwoch gehe ich zum Ziehen der Fäden. Ich freue mich darauf, diese seltenen Augen wiederzusehen, denn einen Funken von ihrem Licht werde ich auch dann mit in den Tag nehmen und ich werde versuchen, ihn möglichst lange zu konservieren.

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