von Carmen Stadelhofer
In der ersten und zweiten Frauenbewegung des letzten Jahrhunderts kämpften Frauen für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in allen Lebensbereichen und um die Selbstbestimmung der Frauen über ihren Körper, gegen Diskriminierung und jede Form von Gewalt, und für Orte, wo sich Frauen frei entfalten können. Natürlich gab es darunter auch viele offen lesbisch lebende Frauen, aber als ich vor einigen Jahren das erste Mal die Abkürzung „LSBTTIQ-Gruppen“ las, war ich etwas ratlos. L für Lesbisch, S für Schwul, diese Begriffe waren mir vertraut, aber für was steht BTTIQ. fragte ich mich. Und wurde so mit einer Bewegung und einem gesellschaftlichen Anliegen konfrontiert, das mittlerweile mitten in unserer Gesellschaft angekommen ist.
Ein online-Vortrag der Vertreterinnen der Gruppe Young und Queer in Ulm (https://www.youngandqueer.com/) im Frühsommer 2021 in der Reihe „Welten begegnen sich“ auf der Online-Plattform ViVES@BW (vives-bw.de) gab uns die Gelegenheit, uns mit diesen Begriffen näher auseinander zu setzen und mit jungen Frauen zu sprechen, die sich aktiv für die Rechte „queerer“ Menschen einsetzen.
LSBTTIQ steht alsSammelbegriff für Menschen, die außerhalb der heterosexuellen und zweigeschlechtlichen gesellschaftlichen Norm leben: Die einzelnen Buchstaben stehen für lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell, transgender, intersexuell und queer.
Im Einzelnen:
L für Lesbisch/ S für Schwul: Personen, die sich gefühlsmäßig oder körperlich zu Personen des gleichen Geschlechts hingezogen fühlen.
B für bisexuell: Personen, deren Sexualempfinden sich auf Personen des anderen wie des gleichen Geschlechts bezieht.
Bei diesen beiden Begriffen geht es um die sexuelle und/oder romantische Orientierung.
Bei den Begriffen transsexuell, transgender und intersexuell geht es um die Geschlechtsidentität, also um das persönliche Selbstverständnis, was das eigene Geschlecht angeht, und um die eigenen körperlichen „Merkmale“.
T für transsexuell: Personen, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugesprochen wurde, und die körperlich und sozial im anderen Geschlecht leben möchten. Es besteht der starke Wunsch, den Körper durch hormonelle oder operative Maßnahmen in Übereinstimmung mit der inneren Identifikation zu bringen.
T für transgender: Personen, die sich ebenfalls nicht – oder nicht nur – mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Anders als „transsexuell“ haftet dem Begriff keine pathologisierende Konnotation an. Außerdem nutzen ihn gerne Personen, die sich nicht in der Auffassung wiederfinden, dass es insgesamt nur zwei Geschlechter gibt, die also ein rein binäres Verständnis von Geschlecht (Mann/Frau) ablehnen.
I für intersexuell: Personen mit angeborenen körperlichen Merkmalen, die nicht den gängigen Vorstellungen von männlichen oder weiblichen Körpern entsprechen.
Q für Queer: Queer dagegen ist ein Oberbegriff für alle Menschen, deren sexuelle/ romantische Orientierung und/oder Geschlechtsidentität und/oder deren Beziehungsmodelle (z.B. Polyamorie) von gesellschaftlichen Normvorstellungen abweichen. Queer ist also nochmal weiter gefasst als die Buchstaben LSBTTI* und schließt sie alle ein. (Das * steht dabei immer als Platzhalter und Freiraum für alle Menschen, die sich in den Begriffen so nicht wiederfinden, die also in diesen Akronymen nicht abgebildet sind).
Es wird von einer grundsätzlichen sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt ausgegangen, Geschlecht wird als soziales Konstrukt gesehen. Als nicht-binär werden so beispielsweise Personen bezeichnet, die sich gar nicht oder nicht ausschließlich als männlich oder weiblich identifizieren.
Ein binäres Geschlechterverständnis ordnetGeschlecht zwei eindeutig definierbare Kategorien zu – „weiblich“ und „männlich“ -, und geht davon aus, dass die Geschlechtsidentität bei allen Menschen grundsätzlich mit dem Geschlecht übereinstimmt, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Diese Auffassung bestimmt soziale Zuschreibungen, Normen und Wertigkeiten. Andere Geschlechterausprägungen (z.B. trans*, inter*, nicht-binär) werden als abweichend konstruiert und somit abgewertet.
Die Vielfaltsperspektive, für die sich LSBTTIQ-Gruppen einsetzen,geht von der Grundannahme aus, dass Geschlecht nicht zwangsläufig durch primäre körperliche Merkmale festgelegt ist. Es gibt nicht nur zwei Geschlechter (Männer/Frauen). Entscheidend ist das geschlechtliche Selbstverständnis der Person, d.h. welchem Geschlecht sich die Person zugehörig fühlt (Geschlechtsidentität)
Das heißt: nicht alle Menschen sind heterosexuell und Sexualität steht nicht zwangsläufig in Zusammenhang mit Geschlecht. Und: LSBTTIQ sind Eigenschaften bzw. Lebensformen, die einen natürlichen Teil der Person und deren Identität ausmachen, denn Sexualität und Geschlecht sind keine Entscheidungen
Warum ist eine Vielfaltsperspektive wichtig?
Annahmen über sog. „normale“ Sexualität und Geschlechtsausprägung definieren, wie Menschen in unserer Gesellschaft wahrgenommen werden. Das Thema „Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt“ löst auch heute noch bei vielen Menschen Unsicherheit und Berührungsängste aus, alle sexuellen Formen, die nicht „heterosexuell“ ausgerichtet sind, werden oft abgewertet.
Viele queere Menschen wurden während der Zeit des Nationalsozialismus kriminalisiert, zwangssterilisiert oder als Homosexuelle und „Asoziale“ in Arbeits- und Konzentrationslager gebracht und umgebracht. In vielen Gesellschaften/Kulturen/Religionen werden sie auch heute noch sanktioniert, gesellschaftlich oder sogar gesetzlich, wie jetzt gerade in Ungarn.
Gelebte Demokratie braucht freies Entfaltungsrecht für alle Menschen, das bedeutet Akzeptanz und gleiche Rechte für alle, egal, mit welcher Geschlechtsidentität sie leben. In den letzten Jahren wurde dieses Thema in verschiedenster Weise öffentlich behandelt, es hat sich bereits viel verändert, bei uns auch gesetzlich, was vor allem dem engagierten Kampf von Organisationen und Netzwerken von Queer-Menschen um Anerkennung und gleiche Rechte zuzuschreiben ist.
Diese Vielfaltperspektive kommt aber nicht von alleine, sie muss bewusst gesellschaftlich gestaltet und gefördert werden. Wichtig ist die Aufklärung an Schulen und Bildungseinrichtungen, damit junge Menschen lernen, ihre Geschlechtsidentität zu finden, andere in ihrer Geschlechtsidentität und sexuellen und romantischen Orientierung zu respektieren und akzeptieren – und dass die, die von gesellschaftlichen Normen abweichen, vor Mobbing und Diskriminierung und Ausgrenzung geschützt werden. Hier setzt die Gruppe „Young and Queer“ in Ulm an. Sie möchte ein Bewusstsein für queere Themen in der Allgemeinbevölkerung schaffen. Sie betrachtet sich dabei nicht als in sich geschlossene Community, sondern möchte „einen offenen, gesellschaftlich geführten Dialog anregen, um gegenseitige Toleranz, Akzeptanz und Wertschätzung zu fördern“.