Der Sonntagsspaziergang

von Maria Schmelter

An diesem Sonntag trafen sich Käthe, Elsbeth und Marie am Eingang des Schlossparks, am schmiedeeisernen Tor zu einem Spaziergang. Sie trugen die weißen Hauben der verheirateten Frauen und nutzten die Gelegenheit. Ihre Ehemänner hatten sich zum Skat verabredet. Sie hatten sich lächelnd eingehakt. Gerade war ihnen Elvira entgegengekommen. Sie trug einen Korb, und ihr Mann, mit einem Sack unter dem Arm, lief ihr voraus. Über diese Szene gab es eine Reihe von Spekulationen. Was trug der Mann in seinem Sack, was die Frau in ihrem Korb und wohin führte sie ihr Weg?

Doch diese Überlegungen konnten sie nicht länger beschäftigen, denn sie kamen nun an einer Gruppe schnittiger junger Herren vorbei, von denen einer ganz unverhohlene Blicke auf zwei junge, kokett herausgeputzte Damen warf. Hinter denen kam eine Frau auf einem Fahrrad – sicher eine Suffragette – so unschicklich, wie sie sich bewegte. Sie überholte die jungen Damen und fuhr zielstrebig weiter.

War nicht heute im Brunnenhaus eine Veranstaltung zu den Rechten der Frauen angekündigt? Rosa Luxemburg, eine bekannte Aktivistin, wollte dort sprechen. Sie forderte nicht nur das Wahlrecht für Frauen, sondern plädierte sogar dafür, dass Frauen das gleiche Recht auf Bildung haben sollten und ihnen die Ausübung einer Berufstätigkeit nicht verwehrt werden sollte.

Undenkbar, wer sollte sich denn dann um das Haus und die Kinder kümmern und den Männern ihre Annehmlichkeiten bereiten? Käthe, Elsbeth und Marie waren sich einig, dass diese von Gott gewollte Ordnung nicht geändert werden durfte. Sie hatten die Plakate gelesen und, empört ob dieser abstrusen Ideen, ihre Köpfe geschüttelt. Aber wie durch Magie bewegten sie sich auf das Brunnenhaus zu. Sie könnten ja von Ferne einmal schauen, wer solche zersetzenden Ideen äußern würde und welche Frauen sich dies anhörten, vielleicht sogar applaudierten.

Die Dame auf dem Fahrrad war Rosa Luxemburg. Sie war heute früh mit dem Zug aus Berlin eingetroffen, noch ganz erfüllt von ihrem Treffen mit Karl Liebknecht, der all ihre Ideen, die Rolle der Frauen betreffend, unterstützte und sie ermutigte, ein eigenständiges Leben zu führen.

Als sie das Brunnenhaus erreichte, schlug ihr eine Welle von Misstrauen entgegen. Die verheirateten Frauen, die in gebührendem Abstand vom Brunnenhaus standen, schauten sehr feindselig. Die jungen Frauen schwatzten und lachten recht ungläubig. Wie sollte man sich das vorstellen, eine Welt, in der Frauen und Männer gleichberechtigt miteinander lebten?

Die Phantasie reichte nicht aus, diese Kluft zu überbrücken. Ein Blick ins 21. Jahrhundert zeigt, dass sich vieles verwirklichen ließ – aber von der gleichen Bezahlung sind wir doch – warum eigentlich? – immer noch weit entfernt.