Nur die Ventile oder wie eine Freundschaft zerbrach

von Beate Seelinger

Auf nach Südfrankreich!

Endlich Urlaub! Die Provence wartete auf uns. Campingurlaub in Südfrankreich! Wir – jung, verliebt – wollten etwas erleben. Ich kannte einige Orte in der Provence bereits durch unsere Abschlussfahrt im Gymnasium. Schön war es dort. Ich konnte es kaum erwarten, Tom die mediterrane Landschaft, die pittoresken Städte und die Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Schon seit ich als Kind in Italien die ersten echten Zitronen an Bäumen hatte wachsen sehen, liebte ich den Süden. Und nun drei Wochen Ferien im Midi! Aufgekratzt und voller Vorfreude packten wir das Auto.

Toms Auto! Er hatte sich damit einen Traum seines jungen Lebens erfüllt. Nicht mehr Limousine, schon ein brauchbarer Sportwagen. Spritzig, wendig, knallrot, in Italien gebaut. Das Auto war seine neue Liebe, sein neuer Buddy. Ich fragte mich häufiger, ob ich eifersüchtig sein müsste, aber auch ich liebte es, im Sommer den Wagen auszuleihen und bei offenen Fenstern mit Musik um die Ohren kleinere Spritztouren zu unternehmen. Wir waren jung! Zwei Personen und eine reduzierte Campingausrüstung passten gerade so hinein. Und früh morgens, sportlich durchgestartet, ging es los.

Normalerweise fahre ich – noch heute – lieber mit dem Zug als mit dem Auto. Man kann sich zurücklehnen, eine Miniaturflasche Rotwein öffnen, gegebenenfalls, wenn die vorbeifliegende Landschaft gerade einmal nicht so viel hergibt, ein Buch oder eine Zeitschrift zur Hand nehmen und befindet sich im Urlaub, sobald man den Platz eingenommen hat. Man reist ‚natürlich‘. Braucht keine Staus zu fürchten, muss sich auf nichts konzentrieren und erlebt die schrittweise Veränderung der Landschaft, während man seinem Ziel entgegenfährt. Jedoch, mit Toms Flitzer machte es Spaß, die Autobahn entlang zu düsen, selbst wenn ich das Steuer zu übernehmen hatte. Frühzeitig erreichten wir die Route du Midi und waren mit einem Schlag im lange schmerzlich vermissten Süden.

Turbulenzen kurz vorm Ziel

Noch dreißig Kilometer bis Avignon. Von dort sollte es nach Arles gehen, die Stadt, von der aus – wie ich es bereits erfahren hatte – sich ideal Ausflüge in die nähere und fernere Umgebung unternehmen lassen würden. Wir erreichten die Autobahnabfahrt nahe der Stadt der Päpste. Als wir in die langgezogene Kurve einbogen, verlangsamte sich unser Tempo merklich. Natürlich, in einer Autobahnabfahrt verringerte man das Tempo, jedoch, mir war sofort klar, dass dieses langsamere Fahren etwas anderes bedeutete. Fragend blickte ich Tom an. Der drückte das Gaspedal durch – der Motor antwortete mit einem Geräusch, das einem Traktor alle Ehre gemacht hätte. Motorschaden! Wie weit war es noch bis zum Campingplatz in Arles?

Während wir jeden Moment das gänzliche Aus des Motors erwarteten, tuckerten wir mit eingeschalteter Warnblinkanlage dahin. Wir hielten den Verkehr auf. Hinter uns eine beachtliche Autoschlange. Unwillige Blicke der Überholenden. In unseren Köpfen alle möglichen Gedanken und Befürchtungen. Was für ein Auftakt für den Urlaub!

Nicht nur wegen mediterraner Temperaturen erreichten wir mit schwitzigen Händen dennoch am späten Nachmittag unser Ziel. Jetzt erst einmal das Zelt aufbauen und dann sähe man weiter. Eine Bleibe brauchte man ja. Es wurde spät. Eine Autowerkstatt würde schon geschlossen haben. Also vertagten wir die Suche nach einer solchen auf den kommenden Morgen. Das rote Auto parkte schuldbewusst neben dem Zelt. Müde vom Stress und von der Reise suchten wir uns im Zentrum, das man zu Fuß erreichen konnte, ein Restaurant. Auch ein Abendessen brauchte man. Wir versuchten, das südländische Flair der Promenade und das Dinner zu genießen. Es war immerhin unser erster Urlaubstag. Aber es wollte keine rechte Ferienstimmung aufkommen. Tom einen Sommerabend in Arles nahezubringen, hatte ich mir anders vorgestellt. Seine Miene sprach Bände: In Gedanken weilte er bei seinem Herzensfreund, dem roten Flitzer, und war – typisch Mann, wie ich mir sagte – voller Sorge um ihn.

Bekanntschaft mit einem Bilderbuchfranzosen

Am nächsten Morgen regnete es. Und zwar heftig. Wir erkundigten uns in unserem beschränkten Französisch bei dem Campingwart nach einer der Automarke entsprechenden Vertragswerkstatt. Um nach dem Weg zu fragen, ein Essen zu bestellen, sich zurechtzufinden im fremden Land reichten unsere Sprachkenntnisse. Jedoch, wenn es um differenziertere Angelegenheiten wie im vorliegenden Fall ging, haperte es. Dennoch, wir verstanden, dass die nächste Werkstatt, die unser Auto „behandeln“ könne, in Avignon zu finden sei. Das hätte man einen Tag früher wissen müssen!

Im strömenden Regen tuckerten wir mit eingeschalteter Warnblinkanlage und mit schwitzigen Händen zurück nach Avignon. Wir hielten den Verkehr auf. Hinter uns eine beachtliche Autoschlange. Unwillige Blicke der Überholenden. In unseren Köpfen alle möglichen Gedanken und Befürchtungen. Déjà vu! Wir schwiegen vor uns hin, der Regen prasselte gegen die Scheiben.

Schließlich fanden wir die uns empfohlene Werkstatt. Toms Auto stammte von einer bekannten, aber keiner gängigen Marke. Schon bei uns zu Hause waren die Niederlassungen rar gesät, hier in Frankreich aber schien es reine Glückssache zu sein, überhaupt eine in relativer Nähe zu finden. Aber es gab sie tatsächlich in Avignon. Ein etwas beleibter Bilderbuchfranzose mit gescheiteltem, dunklen Haar und Bärtchen auf der Oberlippe untersuchte den roten Patienten. Es dauerte eine Weile, bis er, nachdem er ein paar Mal den Motor hatte aufheulen lassen, jovial und mit einem fröhlichen Lachen erklärte: „Ce sont seulement les soupapes!“

Nur die Ventile also. So, wie der fröhliche Werkstattmeister es sagte, hörte es sich harmlos an. N u r  die Ventile. Wir ahnten noch nicht, dass uns dieser Satz für den Rest unseres Lebens in Erinnerung bleiben sollte.   
Aber ja, das Auto müsse dableiben. Wann wir es abholen könnten? Übermorgen. Na, dann!

Warten auf Besserung

Wir fuhren mit dem Bus zurück nach Arles. Es schüttete noch immer. Der Nachmittag war angebrochen als wir wieder bei unserem Zelt eintrafen. Eigentlich hatten wir uns auf echte Campingfreuden eingestellt, was bedeutet hätte, auf dem Markt Landestypisches einzukaufen, dann unter südlicher Sonne und freiem Himmel ein Mahl zu brutzeln, um schließlich den warmen Sommerabend bei einem guten Glas Beaujolais unter dem Zirpen der Zikaden ausklingen zu lassen. Jedoch, es goss. Wieder zu Fuß ins Zentrum des Städtchens, auf der Suche nach einem preiswerten Restaurant und wieder Tom in tiefer Sorge um seinen gegenwärtig besten Freund, den Sportflitzer.

Ja, natürlich, das Ganze eröffnete uns auch finanzielle Probleme. Wir waren junge Studenten, und die Geldbeutel platzten nicht gerade. Ein Campingurlaub mit Selbstversorgung wäre gut zu stemmen gewesen. Jedoch Restaurantbesuche und erst recht einen noch nicht kalkulierbaren Motorschaden an einem exotischen Auto hatten wir nicht eingeplant.  
Nach dem Essen ein recht lustloser Gang über die unvermeidliche Promenade. Eine Rutschpartie auf den regennassen Platten, während durch die mürben, sonnengegerbten Markisen die Wassertropfen in unsere Krägen tropften. Als wir dann wieder in unser Zwei-Mann-Hauszelt krochen, fühlten sich die Schlafsäcke klamm an. Noch hielten der Zeltstoff und die Imprägnierung weitere Feuchtigkeit ab. Jedoch, wenn es die Nacht über so weiter regnen sollte…?

Das war der zweite Urlaubstag.

Es regnete die Nacht über weiter. Am nächsten Morgen hing das Zeltdach durch, und berührte man es, war es vorbei mit der Dichtigkeit. Den ganzen Tag über blieb der Himmel grau und die Regenpausen erwiesen sich kürzer als die Regenphasen. Irgendwie verbrachten wir den Tag in der Stadt – insgesamt durchgefeuchtet – pendelnd zwischen Cafés, Kirchen und Kaufläden.

Das war der dritte Urlaubstag.

Nach einer weiteren Nacht im inzwischen ungemütlich feuchten Zelt brach der Tag an, an dem das vor allem von Tom schmerzlich vermisste Auto repariert sein sollte. Um Geld zu sparen, sollte er alleine mit dem Bus nach Avignon fahren, um es abzuholen. Natürlich regnete es noch immer. Nicht mehr beständig, aber es war grundsätzlich nass. Campingurlaub kann klasse sein. Aber Campingurlaub im Dauerregen fördert Depressionen.
Am frühen Nachmittag kam Tom aus Avignon zurück. Ohne Auto und mit nicht mehr so aufgehellter Stimmung wie der, in der er morgens abgefahren war. Der Bilderbuchfranzose war bei seiner Diagnose geblieben und hatte sie wiederholt: „Oh, Monsieur – seulement les soupapes!“ Jedoch, um diesen unbedeutenden Schaden beheben zu können, war es notwendig geworden, den gesamten Motor auszubauen, der – wie Tom, dem der Schreck noch im Gesicht stand, berichtete – komplett, aber eben ausgebaut, neben dem Auto gelegen hatte. Am nächsten Tag aber – versprochen – sollte der Wagen fertig sein.

Das war der vierte Urlaubstag.

Obwohl wir unsere Zweifel hatten, dass der fröhliche Franzose Motor und Karosserie bis zum nächsten Tag wieder vereint haben würde, fuhr Tom in der Frühe erneut nach Avignon. Das Wetter hatte sich noch immer nicht gebessert, und Zelt samt Inventar fühlten sich – man kann es nicht anders sagen – inzwischen einfach nur nass an. Am frühen Nachmittag kehrte Tom zurück – ohne Auto. Motor und Karosserie hatte man inzwischen zwar wieder vereint, jedoch der Wagen hatte sich geweigert anzuspringen. „À demain, Monsieur!“ Der rundliche Franzose war überzeugt, dass er das Auto am nächsten Tag in Gang haben würde. Im Regen machten wir uns am späten Nachmittag auf die Suche nach einer Apotheke, denn wir brauchten unbedingt etwas gegen Schnupfen und Husten.

So verging der fünfte Urlaubstag.

Endlich Sonne!

Am sechsten Tag erwachten wir durch ungewohnten Lichtschein, der in das Zelt drang. Erstaunt steckten wir die Köpfe durch die Reißverschlussöffnung, und es strahlte uns eine unschuldige, brillante Sonne des Südens entgegen. Wir wussten es sofort: Heute war unser Tag! Jetzt fing der Urlaub an. Das Auto würde repariert und das Regentief endgültig abgezogen sein. Gut gelaunt machte sich Tom auf den Weg zum Busbahnhof, voller Zuversicht, dass der Bilderbuchfranzose und das ihm so heilige Gefährt ihn heute nicht enttäuschen würden.

Ich nutzte derweil den sonnigen, sehr schnell auch warmen Morgen, um  Schlafsäcke, Kissen, die Kleidung und was sich sonst noch alles nach trocknenden Sonnenstrahlen sehnte, aus dem Zelt zu räumen, und – wie die uns umgebenden Campingnachbarn auch – unter dem wolkenlosen Himmel auszubreiten. In dem Maße, in dem die Zeltwände sich wieder spannten und ich nach und nach das Inventar wieder einräumen konnte, hob sich auch meine Stimmung. Immer wieder blickte ich den Fahrweg entlang, voller Erwartung, eine rote Kühlerhaube um die Ecke biegen zu sehen. Und schließlich, als ich mein Werk so gut wie vollbracht hatte – tatsächlich – da erspähte ich das bekannte Nummernschild schon von Ferne.

Strahlend nahm ich Tom in Empfang. Der jedoch erwiderte meine Euphorie nicht im Geringsten. Beleidigt ließ ich ab. Mein Begleiter ließ sich in einen Campingstuhl fallen. „Kannst alles wieder ausräumen. Wir fahren nach Hause.“

Mit offenem Mund starrte ich ihn an. Ja, die Ventile waren ausgetauscht, der Motor lief, das Auto war wieder intakt. Jedoch – die unbedeutende Sache hatte uns unsere gesamte Urlaubskasse gekostet. Toms Auto war eben ein Exot. Wir hatten unseren Wagen wieder, aber unser Urlaub war vorbei, noch ehe er begonnen hatte.

Rache ist süß!

Erkältet und frustriert bis auf die Knochen kehrten wir nach Hause zurück. Irgendwann jedoch hatten wir den Flop verschmerzt. Die Sache mit den Ventilen sollte für Toms roten Liebling allerdings Konsequenzen haben. Nachdem eine Geschädigteninitiative einmal einen Verwandten des Gefährtes mit unzähligen gelben Kringeln auf der Karosserie, die Rostflecken anzeigten, auf einem zentralen Platz in unserer Stadt zur Schau gestellt hatte, nachdem auch in Toms Auto das Regenwasser zuweilen in den Aschenbechern stand und beim Bremsen wie eine Flutwelle unter dem Rücksitz her bis hin zu den Pedalen schwappte und nachdem ein namhafter Automobilclub der zweifelhaften sizilianischen Entwicklung die goldene Zitrone verliehen hatte, schaffte Tom – gar nicht mehr schweren Herzens – das  Auto ab und legte sich einen anderen fahrbaren Untersatz zu. Einen unauffälligen Wagen, überall in Europa vertreten, robust und erprobt.

Im nächsten Jahr planten wir unseren Urlaub wieder in Südfrankreich. Auf demselben Campingplatz, freundschaftlich begleitet von einem grundsoliden Nutzfahrzeug. Das Wetter war einfach toll, der gesamte Midi hinreißend – wir haben uns prächtig erholt. Und als wir einmal, entgegen unserer Gewohnheit, links abbogen, nachdem wir aus dem Campingplatz herausgefahren waren und nicht die Hauptstraße nach Avignon wählten, erwies sich das dritte Gebäude rechts an dem leicht holprigen Seitenweg als Vertragswerkstatt unseres ventilgeschädigten Exoten. Und die war auch schon im regenreichen Sommer des Jahres zuvor da gewesen, n`est-ce pas?