von Maria Schmelter
Vor meinem Schlafzimmerfenster steht ein prächtiger Bonsai. Ich weiß gar nicht, ob ich ihn prächtig nennen darf, denn in den 15 Jahren, in denen er bei mir lebte, hat er ein Schattendasein geführt. Im vergangenen Sommer habe ich ihn aus der flachen Schale umgetopft. Er hatte viele gelbe Blätter bekommen und ich dachte, wahrscheinlich braucht er wie jede normale Pflanze mehr Erde.
Ich erinnere mich genau an die Situation, in der dieser Bonsai zu mir kam. Es war Weihnachten, ein schreckliches, denn zuvor hatte ich dem Mann, mit dem ich lebte, wegen Untreue, gekündigt. An diesem Weihnachtsfest fühlte ich mich der wohnsitzlosen Heiligen Familie besonders verbunden. Mein Umzug stand mir noch bevor, ich saß auf den gepackten Kisten. Gott sei Dank hatten mich liebe Freunde eingeladen, unter ihrem schönen Weihnachtsbaum zu sitzen. Und unter diesem stand als Geschenk meiner Söhne eben der Bonsai, mit einem Pflegeanleitungsbuch. Ich bedankte mich und dachte, das ist garantiert das Letzte, was ich jetzt brauche.
Für Lebewesen, die künstlich klein gehalten werden, wie z.B. Handtaschenhunde habe ich keine Sympathie. Es hat mich immer gestört, wenn Menschen nach einem Blick in den Kinderwagen seufzten: „So müssten sie immer bleiben.“ Ich dachte, natürlich ist es eine innige, schöne Zeit, aber man will sie doch heranwachsen sehen und möchte, dass sie irgendwann ihre eigenen Wege gehen.
Wenn ich heute nach 15 Jahren an meinen Bonsai denke, würde ich ihm das Prädikat „strapazierfähig“ geben. Er gehört nicht zu den Blumen, mit denen man sprechen muss. Ihm reicht von Zeit zu Zeit ein Schluck Wasser. Vielleicht hat er manchmal, wenn noch ein Schluck Dünger in der Gießkanne war, davon etwas abbekommen. Die Pflegeanleitung habe ich nie gelesen, ich hasse jede schriftliche Form von Gebrauchsanweisung, deshalb geht auch die immer zahlreicher werdende Ratgeberliteratur spurlos an mir vorbei. Die Blätter, die eine normale Größe entwickelten, habe ich immer abgeschnitten.
Mein Bonsai erinnert mich an das Drittel Kinder, die sich laut einer skandinavischen Langzeitstudie normal oder sogar mit großer Resilienz entwickeln, obwohl sie in schwierigen Verhältnissen aufwachsen.
Und dann muss ich seine Treue noch besonders hervorheben. Inzwischen haben wir gemeinsam noch einen Umzug hinter uns gebracht. Jetzt haben wir unseren Altersruhesitz erreicht. Bei diesem Umzug habe ich geschworen, das ist der letzte, den ich mache, den nächsten müssen die Söhne machen, denn der geht ins Altenheim – mit Bonsai, da hat man ja nicht mehr viel Platz, aber für mich und den Bonsai wird es reichen.