Mein Freund, das Te Deum

von Beate Seelinger

Eine unerwartete Begegnung

Es geschah vor einigen Jahren an einem Spätsommernachmittag in der Eifel. Ich war zu Besuch bei einer Freundin, und als besonderes Highlight hatte sie geplant, anlässlich des Tages der offenen Tür zu einer nicht allzu weit entfernten Abtei zu fahren. „Ein Kraftort“, wie sie es nannte, und nun, nach einem weiteren Besuch dort, stimme ich mit ihr in diesem Punkt völlig überein. Nach einer anstrengenden Fahrt über zahlreiche Umleitungen eröffnete sich uns der wunderbar an einem Vulkansee gelegene Ruhepunkt. Nur, an jenem Tag so ganz und gar nicht meditativ, sondern ein von Menschen und Leuten wimmelnder Jahrmarkt. Aber auch dies hatte seinen Reiz. Ein Kloster, das sich dem pulsierenden „normalen“ Leben mit seinem Kommerz auch einmal heiter öffnen kann, hatte für mich etwas äußerst Glaubwürdiges.

Ich wusste noch nicht, dass ich an diesem Tag meinen besten Freund kennenlernen sollte. Zwar besuchte ich die Abtei, jedoch kam ich eigentlich nicht hin zu ihm, dem Freund, sondern er kam zu mir. Wir haben uns nicht gesucht, aber gefunden. Und seither treffen wir uns jeden Tag. Bis auf ganz seltene Ausnahmen.

Kloster Mari Laach in der Eifel (Bild: Klosterverlag mit Genehmigung des Verlages)

Das Kennenlernen

Zwischen Devotionalien, Schmiedekunst, Pflanzlichem für den Garten, Produkten für das leibliche Wohl, Kunst und Kunsthandwerk zog es meine Freundin und mich zu einem Stand, an dem geistliche Literatur verkauft wurde. Hinter den Verkaufstischen agierten Patres in ihren dunklen Habits. Eine gewisse Scheu vor den frommen Männern und auch die Tatsache, dass ich mich nicht in die Schlacht um die Auslagen einmischen wollte, ließ mich in einigem Abstand warten und die Szene beobachten.

Ich musste einen versonnenen Eindruck gemacht haben. Und ich war versonnen. Ich hätte zu gerne gewusst, wie die Patres, die sonst in der Stille ihrer Abtei lebten, diese Festivität wahrnahmen. Die in den Auslagen wühlenden Käufer. Das Schubsen und Drängen. Den Lärm und das Kindergeschrei. Die oftmals völlig unpassende Kleidung der Besucher. Mit welchen Augen sahen sie dies alles auf ihrem heiligen Boden?

Während ich gedankenverloren in zwei, drei Metern Abstand von den Verkaufstischen stand, fühlte ich mich plötzlich beobachtet. Ich suchte den Blick, der auf mir ruhte, und gab mir Mühe, ihn zu erwidern. Es war einer von den Patres, der mich da im Visier hatte. Er lächelte mich an. Da streckte er die Hand aus und hielt mir mit einladendem Blick etwas hin. Ich trat näher, und er sagte: „Nehmen Sie das mit. Sie können es haben.“

So kam das „Te Deum“ zu mir. Nun ist es aber an der Zeit, dass ich meinen besten Freund vorstelle.

Wer ist mein Freund?

Mein Freund Te Deum (Bild: Klosterverlag mit Genehmigung des Verlages)

Das „Te Deum“ ist ein kleines Bändchen in Taschenbuchformat, im Durchschnitt ungefähr dreihundert dünne Seiten stark, der Einband vorwiegend in Rot gehalten, aufgelockert durch einen immer wechselnden Farbdruck des einen oder anderen ausdrucksstarken Kunstwerkes.

Das Büchlein vermittelt das Stundengebet der Abtei im Alltag. Neben Texten zu Glaube, Kunst, Wissen und Gesellschaft finden sich darin das tägliche Morgenlob, die Schriftlesung, das Abendlob und das Nachtgebet. Der gebetete Klosteralltag sozusagen. Eine Struktur, an die man sich gewöhnen kann.

Es ist wahr, das „Te Deum“ hat sich in mein Leben geschlichen, und aus der zögerlichen Bekanntschaft wurde eine feste, beste Freundschaft. Ich habe es, bald nachdem es zu mir gekommen war, abonniert. Mitte des Monats steckt es der Postbote in den Briefkasten, und verzögert sich seine Ankunft um ein oder zwei Tage, werde ich schon unruhig.

Die Beziehung

Unsere Beziehung ist in keiner Weise eintönig. Oft genug finden unsere Treffen allerdings tatsächlich routinemäßig statt. Zu festen Zeiten, morgens um halb acht, abends um halb acht. Ich gestehe meinem Freund zu, dass Telefon und Handy für den Zeitraum unserer Gemeinsamkeit ignoriert werden. Ganz klar. Mein Freund ist mir einfach wichtig.

Ergeben sich längere Phasen der routinemäßigen Treffen, kann es sein, dass wir uns auch einmal nicht so viel zu sagen haben. Dann kommt in mir nichts zum Schwingen, weil die Worte zu vertraut sind. Der zündende Funke will dann nicht überspringen. Ich hasse diese Phasen und fürchte manchmal, unsere Beziehung nähere sich dem Ende und es müsse ein anderer Dialogpartner her. Jedoch irgendetwas – und  sei es Treue – hält uns bei der Stange, und wir kommen über diese Durststrecken.

Die routinemäßigen Begegnungen haben aber natürlich auch etwas für sich. Sie strukturieren den Alltag – sowieso. Und sie erhalten den Kontakt. Das gibt Ausrichtung. Und Beständigkeit. Sogar Geborgenheit. Mein Freund gehört einfach dazu, und ohne ihn fehlt etwas. Die Treffen mit ihm sind so selbstverständlich und lebensnotwendig wie Frühstück, Mittagessen und Abendessen.   

Und dann sind da auch die anderen Begegnungen. Wenn irgendetwas im realen Leben geschehen ist, wenn irgendetwas im Argen liegt oder wenn gerade einmal alles stimmt. Und, wenn ich dann bei meinem Freund auf ein Wort stoße, das dieses Geschehnis genau trifft oder es spiegelt, es noch weiter erhebt oder es beleuchtet! Das geschieht gar nicht so selten. Dann erscheint es mir, als sei der aktuelle Text an diesem Tag genau für mich gemacht und gedacht. Und ich fühle es, wie das Wort eindringt und mich wirklich erreicht und Antwort oder Bestätigung ist. Das sind die Highlights. Oder, wenn die Fürbitten und die Segenswünsche mir aus der Seele sprechen und genau auch meine Anliegen sind. Dann verstehen wir uns, mein Freund und ich. Dann sind wir Seelenverwandte, wie es beste Freunde zu sein haben.

Manchmal geht mir mein „Te Deum“ aber auch auf die Nerven. Wenn sowieso gerade nichts stimmt und ich Trost und Orientierung, am besten Beruhigung und Frieden suche und wenn ich dann genau das Gegenteil finde. Wenn die Worte noch zusätzlich aufwühlen, wenn sie kritisch daher- kommen und noch mehr Unordnung schaffen. Nein, mein Freund ist keine Beruhigungspille. Ich ärgere mich, wenn ich wieder einmal so gar nicht über meinen Tellerrand schauen möchte, weil mit privaten Sorgen belastet. Und wenn dann die Fürbitten von gesellschaftlichen und weltpolitischen Problemen reden. Noch ein Päckchen drauf auf die eigenen Sorgen. Oder etwa Relativierung?

Und manchmal habe ich auch keine Lust auf meinen Freund. Wenn ich etwas Wichtiges vorhabe, wenn mich zum Beispiel mein Hobby ruft. Und dann erst eine dreiviertel Stunde „Te Deum“! Das kostet erst einmal Überwindung. Oder, wenn die To-Do-Liste voll und es absehbar ist, dass die einzige Feierabendbeschäftigung, die noch bleibt, der Dialog mit dem roten Büchlein sein wird. Erst einmal scheint mir das dann öde. Jedoch setze ich mich hin und nehme die Schrift zur Hand, dauert es nicht lange und Einwilligung, Ankommen, Ruhe, ja, Freude kommen auf. Dann will ich gar nichts anderes mehr. Ich spüre die Zufriedenheit, bei meinem Freund zu sein, und lausche neugierig darauf, was er mir heute zu sagen hat.

Und manchmal reizt mich mein guter Freund auch zum Widerspruch. Dann zum Beispiel, wenn er mir für meinen Geschmack zu moralisch kommt. Das ist selten der Fall, doch das gibt es auch. Jedoch im Großen und Ganzen verzichtet er auf Vorhaltungen. Und das liebe ich an ihm.

Manchmal komme ich unter Tränen zu ihm und lege das Büchlein später mit einem Lächeln im Gesicht zurück an seinen Platz. Manchmal bin ich guten Mutes, wenn ich ihn treffe, und bin dann – ist die dreiviertel oder Stunde vergangen – miserabler Stimmung. Manchmal bin ich erheitert, manches Mal deprimiert, zum Beispiel, wenn ich sehe, wie weit ich hinter seinen Ansprüchen zurückbleibe. Mit ihm kann man den Alltag meistern und Feiertage begehen. Man erlebt aber auch Tage, an denen einfach keine Begegnung stattfindet. So ist das. Wie im wirklichen Leben. Wie mit einem besten Freund eben. Aber eines ist sicher: das „Te Deum“ ist immer da (sofern nicht die Post streikt, aber dann würde ich auf eine frühere Ausgabe zurückgreifen) und immer verfügbar. Vielleicht noch zuverlässiger als ein lebendiger Freund. Jedoch, wieso überhaupt dieser Vergleich? Erübrigt er sich nicht? Verbirgt sich hinter dem „Te Deum“ nicht das Leben an sich? Also könnte ich nicht eigentlich sagen, mein bester Freund sei das Leben? Oder, wer oder was das Leben ausmacht?

Bildnachweis: Benediktinerabtei Maria Laach, Foto: Marie Luise Preiss, copyright: ars liturgica, Klosterverlag Maria Laach, www.klosterverlag-maria-laach.de