Liebe auf den ersten Schrei

Foto: D. Durka

von Dorothee Durka

Nachbarschaft – Freundschaft – Liebe – Heirat – Tod – neue Freundschaft

So fing es an

Mein Bruder und seine spätere Frau (damit ist dem ersten Happy-End schon fast vorgegriffen!) sind 1929 im Abstand von zwei Tagen im selben Wöchnerinnenheim geboren. Die beiden Familien waren Nachbarn, nur ein paar Häuser voneinander entfernt.

So wuchsen die beiden Kinder in Reichweite voneinander auf, spielten zusammen auf der Straße, im Sandkasten und im Kindergarten und gingen in dieselbe Grundschule, allerdings in für Jungen und Mädchen getrennte Klassen. Mein Bruder durfte aufs Gymnasium, sie als Mädchen nicht. Über die Nachbarschaft und die Pfarreijugend, in unserer katholischen Heimat von Bedeutung, blieben sie verbunden. Mit 17 Jahren war ihre Freundschaft besiegelt, und ihnen war klar, dass sie zusammengehörten.

Verbindung trotz Entfernung

Meine Schwägerin absolvierte nach der Volksschule eine kaufmännische Lehre, mein Bruder ging 1949 zum Studium in eine ca. 250 km entfernte Stadt, kam aber immer in den Semesterferien nach Hause, um sich das Geld für das Studium zu verdienen. Die Verbindung der beiden blieb bestehen, obwohl beide – er im Studium und sie allein zu Hause – genug Gelegenheit gehabt hätten, sich anderweitig zu orientieren.

Inzwischen waren wir in einen anderen Stadtteil gezogen. Meine Schwägerin arbeitete im Büro unseres Vaters, mein Bruder in den Ferien ebenfalls. So waren sie in den Ferien oft beieinander, und da mein Bruder sich mit unserer Stiefmutter zu Hause nicht wohlfühlte, verbrachte er auch seine Freizeit im Haus der Partnerin, kam aber jeden Abend nach Hause.

Happy-End: Heirat

Nach dem Ende des Studiums arbeitete mein Bruder noch ein Jahr auch im Büro unseres Vaters, um vor dem schlecht bezahlten Referendariat noch etwas Geld für die Hochzeit und die Wohnungseinrichtung zu verdienen. 1956, mit 27 Jahren, heirateten sie und zogen in ihre eigene Wohnung. Das Ziel des langen Wartens war erreicht.

Familienleben

Nach ca. drei und ca. sechs Jahren wurden ihre beiden Söhne geboren. Meine Schwägerin gab schon nach dem ersten Kind ihre Berufstätigkeit auf, um nur für die Familie da zu sein –  wie es damals, 1960, noch weitgehend üblich war. Mein Bruder schätzte dies sehr und erwähnte manchmal mit einem kleinen Seitenhieb auf mich, 10 Jahre jünger und auch mit Familie berufstätig, wie gut es doch für ihn und die Kinder sei, immer zu Hause eine Ansprechpartnerin mit viel Zeit zu haben. So verbrachten sie viele zufriedene und sicher auch glückliche Jahre, soweit ich das als nahe Außenstehende und aus meist großer Entfernung beurteilen kann. Sie hatten keine besonderen Probleme, keine Krankheiten, keine finanziellen Sorgen. Die Söhne schafften mühelos Schule und Studium.

Eine Anekdote der – sicher nicht ernst gemeinten – Unzufriedenheit fällt mir ein: Mein Bruder hatte nie ein Auto. Zusammen mit den beiden war ich an einem kalten Dezembertag unterwegs zur Taufe eines Enkels am Wohnort des Sohnes. Wir waren schon mit Bus und Bahn gefahren und warteten in der anderen Stadt auf die zum Ziel fahrende Straßenbahn. Diese hatte Verspätung, und wir standen bei Eis und Schnee und Wind eine Zeitlang an der Haltestelle. Da meinte meine Schwägerin, dass sie im nächsten Leben einen Mann mit Auto heiraten würde.

Goldene Hochzeit – und dann….

2006 feierten sie, beide 77 Jahre alt, ihre Goldene Hochzeit. Auch 2009 hatten wir zusammen noch ein schönes Fest: Wir feierten zu dritt gemeinsam unsere 230 Jahre, zweimal 80, einmal ich mit 70 (Foto oben).

Bald danach erkrankte meine Schwägerin an Krebs und starb 2011, nach fast 55 Ehejahren und 82 Jahren der Gemeinsamkeit: Freundschaft und Liebe vom ersten Schrei bis zum Tod!

Alleinsein

Mein Bruder blieb noch zwei Jahre bei guter Gesundheit allein in seinem Haus, besucht und betreut von seinen beiden Söhnen, die ca. 30 bzw. 40 km entfernt wohnten. Jeden Tag besuchte er das Grab seiner Frau, und wenn er einmal verreiste, sorgte er dafür, dass jemand aus dem Bekanntenkreis sich darum kümmerte, dass das Licht am Grab nicht erlosch.

Als ihm mit 84 Jahren das Wohnen im Haus zu beschwerlich wurde, zog er in eine ‘Betreute’ Wohnanlage in der Nähe des Friedhofs.

Neue Freundschaft

Als praktizierendem Katholiken war meinem Bruder die Teilnahme an Gottesdiensten wichtig. In unserer überwiegend katholischen Heimatstadt fand er jeden Tag irgendwo eine Messe, die er besuchte, auch mit Bus und Rollator, den er eines Tages benötigte. Nach einem der Gottesdienste in einer bestimmten Kirche bemerkte eine Frau, dass er etwas Mühe hatte, in den Bus einzusteigen, und sie half ihm. So trafen sie sich jede Woche, und diese Frau, eine verwitwete Polin, nennen wir sie Frau A., fuhr bald auch mit dem Bus mit, um ihm beim Aussteigen zu helfen. So freundeten sie sich an, bald kam sie regelmäßig zu Besuch und unterstützte ihn, wo sie konnte. Seit ca. 1,5 Jahren ist er im Rollstuhl, und Frau A. kommt fast täglich – vom anderen Ende der Stadt – und fährt ihn vor allem zum Grab seiner Frau, aber auch überall hin, wohin er möchte, z. B. in Kirchen und vor Corona zu kulturellen Veranstaltungen, die er allein nicht erreicht hätte. Geistig ist er noch fit und interessiert, nur sein Körper macht nicht mehr gut mit. Frau A. nimmt das Schieben des Rollstuhls gern auf sich, obwohl es streckenweise mühsam ist, denn unsere Stadt hat einige Hügel zu bieten und einiges Straßenpflaster. Während des Lockdowns, als sie nicht ins Haus kommen durfte, trafen sie sich am  Ausgang des Heims und gingen los. Im neuen Lockdown darf sie wieder kurz sein Zimmer betreten.

Wenn mein Bruder sich bei ihr bedankt, sagt sie, sie müsse sich bei ihm bedanken, denn er gebe ihr die Gelegenheit, etwas Gutes zu tun.

Die alte Liebe bleibt bestehen

Auch nach neun Jahren ist mein Bruder mit seiner Frau sehr verbunden. Im Zimmer vor ihrem Bild stehen immer frische Blumen, am Grab brennt immer eine Kerze. Der tägliche Gang zum Friedhof bei Wind und Wetter mit Hilfe von Frau A. ist selbstverständlich, und wenn seine Söhne oder Freunde und Verwandte zu Besuch kommen, geht er auch mit ihnen nochmals zum Grab. Für die Söhne ist natürlich diese Freundschaft eine Wohltat und eine Entlastung.

Die neue Freundschaft schmälert das Gedenkenan seine Frau nicht, sie gibt ihm und Frau A. einen Sinn und bereitet beiden noch gute Stunden.

Das Foto zeigt Frau A. und meinen Bruder in diesem Sommer am Bahnhof bei meiner Verabschiedung nach einem Heimatbesuch.

Frau A. und mein Bruder (Foto: D.Durka)