Mein Vater

von Dorothee Durka

Mein Vater hatte kein leichtes Leben: Geboren 1897 im Rheinland, mit 19 Jahren für zwei Jahre im 1. Weltkrieg, Heirat 1927, Geburt von zwei Kindern, ein Sohn 1929, ich, eine Tochter, 1939, dazwischen 5 Fehlgeburten unserer Mutter.

Ein halbes Jahr nach meiner Geburt vom 1. Tag an im Krieg, Rückkehr Ende 1945 aus französischer Gefangenschaft. Kurz danach erkrankt unsere Mutter an Krebs, sie stirbt nach längerem Leiden 1949 im Alter von 49 Jahren. Mein Vater bleibt zurück mit dem 20-jährigen Sohn und mir, dem zehnjährigen Mädchen. Nach 1 1/2 Jahren heiratet er mit 53 Jahren wieder, seine neue Frau ist 37 Jahre alt, nach fünf Jahren kommt das für sie erste Kind.

In der Schwangerschaft hat die werdende Mutter eine Psychose, die jahrelang in Form von manischen und vor allem depressiven Phasen erhalten bleibt und damals nicht nur nicht heilbar, sondern auch nicht in den Griff zu bekommen war. Mit 56 Jahren nimmt sie sich das Leben, mein Vater steht nun – 72 Jahre alt – wieder mit einem Kind da.

Er hat bis zu diesem Zeitpunkt noch gearbeitet – vielleicht auch, um dem schwierigen Alltag zu entfliehen,  aber er hört nun auf und sorgt, so gut er kann, für den 13-jährigen Jungen, der es ihm auf Grund der Umstände, unter denen er aufgewachsen ist, nicht leicht macht. Wir „Großen“, 27 und 17 Jahre älter, haben inzwischen unsere eigenen Familien, ich selbst bin dazu auch noch 550 km von unserer Heimat entfernt gelandet.

Mein Vater, der sein Leben lang nicht krank war und im Krieg „nur“ eine Knieverletzung und den Verlust von zwei halben Fingern zu beklagen hatte, bekommt eine Leukämie, die sich aber wegen seines Alters nicht allzu schwer auswirkt. Er fühlt sich noch ziemlich fit und freut sich, mehrmals im Jahr, vor allem an Weihnachten, anfangs noch mit Sohn, zu mir kommen zu können.

Nun beginnt die eigentliche Geschichte:

Ende 1974, mein Vater ist 77 Jahre alt, fühlt er sich nicht mehr fit genug, die Reise zu mir zu machen, deshalb bittet er uns, doch zu ihm zu kommen. Wir entscheiden, dass nicht die ganze vierköpfige Familie – die Söhne waren 5 und 2 1/2 Jahre alt – zu ihm fährt, damit er nicht zu sehr strapaziert wird, sondern nur ich mit dem älteren Sohn. Allerdings wollten wir die Feiertage noch gemeinsam zu Hause verbringen und erst nach Neujahr, so am 2. oder 3. 1., fahren, dann hätten wir noch eine Woche mit meinem Vater gehabt (ich war damals im Schuldienst). Aber da die Familie, die meinen Vater ein wenig betreute, schon vor Neujahr in Urlaub gehen wollte, fuhren wir auf seine Bitte hin schon am Montag, 29. 12., zu ihm. Mein Vater freute sich darauf, uns zu sehen, er freute sich aber auch darauf, Wünsche von mir erfüllt zu bekommen, für die sein Sohn, der gerade 19 wurde, nicht so viel Sinn hatte: Freunde und Verwandte zu besuchen, auch die Gräber unserer Angehörigen auf dem Friedhof, die Krippen in der Umgebung zu besichtigen, was er als  Tradition schon seit Jahren pflegte, sich von mir das kochen zu lassen, was er gern mochte…

So verbrachten wir wunderschöne Tage bis zum Samstag. Vater und Tochter, Großvater und Enkel genossen die Gemeinsamkeit, schließlich sahen wir uns wegen der Entfernung nicht allzu oft, und es hatte ihm schon zu schaffen gemacht, dass ich als einzige Tochter nach dem Studium im Süden hängen geblieben war. Für den Samstagnachmittag hatten wir wieder einen Besuch bei Verwandten geplant. Am Tag danach wollte ich nach Hause fahren.

Der Samstag begann ohne besondere Vorkommnisse, mein Vater ging morgens noch allein in die Stadt, wir aßen zu Mittag, er legte sich danach ein wenig hin, alles war wie immer, auch die Sorge um seinen Sohn, der mit dem Auto unterwegs war.

Nach dem Mittagsschlaf – ich saß mit einer Freundin im Wohnzimmer, ihr Sohn und meiner spielten zusammen – ging mein Vater in die Küche. Von dort hörten wir ihn plötzlich heftig stöhnen. Als ich herbeieilte, rettete er sich gerade noch auf einen Stuhl, atmete schwer, stöhnte noch ein paarmal und war schon nicht mehr ansprechbar. Pfarrer und Arzt, sofort herbeigerufen, konnten nur noch seinen Tod feststellen.

So ist er also innerhalb von Minuten vor unseren Augen gestorben, wobei wir beide zum ersten Mal mit dem Sterben eines Menschen konfrontiert wurden: mein Sohn schon mit fünf, ich mit 35 Jahren.

Bis heute bin ich froh, dass wir ihn in seiner letzten Lebenswoche noch einmal glücklich machen konnten, dass er sich – ohne es zu wissen – von lieben Menschen verabschieden konnte und dass er im Sterben nicht allein war.

In dem Sterbedatum –  4. 1. 1975 – steckt noch eine Besonderheit: Am 1. 1. 75 wurde das Volljährigkeitsalter auf 18 Jahre gesenkt – sein Sohn war also gerade volljährig geworden und brauchte keinen Vormund mehr.

Es hätte alles auch anders kommen können:

Wenn er sich selbst auf den Weg zu uns gemacht hätte, wäre er vielleicht unterwegs und fern der Heimat gestorben?

Wenn die betreuende Familie nicht so früh in Urlaub gefahren wäre, wären wir nicht so früh zu ihm gekommen und hätten kaum noch Zeit miteinander verbringen können. Wenn er vor dem 1. 1. gestorben wäre, hätten wir für seinen Sohn einen Vormund suchen müssen.

Sieht das alles nicht nach einer Fügung aus?

Und mein Sohn stellte beim Anblick des toten Großvaters eine hochphilosophische Frage, die keiner bisher beantworten konnte und es auch in Zukunft nicht können wird:

„Merkt der Opa jetzt, dass er tot ist?“