von Beate Seelinger
Meine mit Abstand schönste Jugenderinnerung betrifft meinen Stipendiaten-Aufenthalt an der Universität von Exeter in Großbritannien. Er bescherte mir ein wunderbares Jahr voller reicher Erlebnisse und umfassenden Glücks. Noch heute spreche ich von einem „Gnadenjahr“, wenn ich davon erzähle oder in meinen Gedanken ist es dies, wenn ich es bedenke. Ich betrat den britischen Boden in Dover – und was soll ich sagen? Ich fühlte mich zu Hause, unmittelbar zu Hause, zu Hause angekommen. Es gibt dafür keine Erklärung, keinen Grund, ich kann es nicht vermitteln – es war einfach eine Sicherheit, ein Gefühl von Angekommensein, irgendwo, wo man schon immer hatte sein wollen. Viele Mitmenschen können mir dies nicht abnehmen und sprechen von Glorifizierung und Überhöhung. Ich kann es nicht widerlegen. Es handelt sich in der Tat um ein ganz und gar subjektives Erleben, das man mir glauben mag oder nicht.
Ein Glücksfall
Es folgte ein Jahr im unbekannten Land, während dessen ich alles, worauf ich traf, liebte – die Kultur, die (von so Vielen verunglimpften) Speisen, die Landschaften, Pomp and Tradition, die Menschen, die Religion, die Royals, die Sprache, das Klima, den Alltag, die Sitten – ich liebte dies alles, hatte meine helle Freude daran, es alles kennenzulernen, saugte es in mich auf, verinnerlichte es, machte mir, was ich konnte, zu eigen. Es war ein Jahr unbeschwerten Studierens, ohne Druck, l`art pour l`art sozusagen, in der traumhaften Umgebung einer Campusuniversität im Garten eines vergangenen Adligen, der Gewächse aus aller Welt gesammelt hatte; im Kreise verbundener, netter Menschen, angeleitet von nahbaren Gelehrten – es war Glück, ein Jahr lang – nicht nur auf dem Campus, sondern wohin ich auch kam und ging. Es bleibt unerklärlich, betrachtet man es aus gewöhnlichem, profanen Blickwinkel. Man wird es so nicht verstehen oder erfassen, es bleibt ein Geheimnis. Dieses Jahr war ein Geschenk vom Himmel her, ein Geschenk aus Gnade eben, ein Gnadenjahr.
Die Wende
Heute, im Rückblick, bewahrheitet sich dies umso deutlicher. Es sollte sich, nach meiner Entscheidung, nach Deutschland zurückzukehren – die schmerzlich getroffen wurde, weil zu jung, um Familie und Herkunft ganz und gar aufzugeben – nämlich so ereignen, dass das Leben für viele Jahre eine ganz und gar unglückliche Wendung nahm und der weitere Lebensweg zur Wanderung über ein aschebedecktes, unwirtliches Geröllfeld ausartete. Nicht, dass es keine Glücksmomente mehr gab – diese gab es – jedoch die Grundstimmung war die eines Vorantappens unter Gewittergewölk auf unabsehbarem Weg, in fremd anmutenden Gefilden und unter feindseligen Gegebenheiten. Es schien, als hätte ich aus der Quelle des Unheils getrunken und hätte damit mich selbst und meinen Lebensweg vergiftet.
Glückserfahrung als Grundlage für schwere Zeiten
Diese Wendung ist ebenso wenig zu erklären wie die oben beschriebene Glückserfahrung. Natürlich gibt es da die faktischen Gegebenheiten, von denen die einen die anderen bedingten, jedoch bleiben der frappierende Kontrast zum erfahrenen Glück und die Schwere, die so unerbittlich andauerte, unerklärlich. Auf eine mehr oder weniger heitere Jugend folgte sozusagen als Krönung jenes überglückliche Jahr, um dann überzugehen in schweren Gang und in glücklose Existenz in den Tiefen, an deren Oberfläche sich zwar Leben ereignete, jedoch auch in den eher erfreulichen Erlebnissen letztendlich vergällt. In diesem Zusammenhang sieht es heute so aus, als sei das Gnadengeschenk wahrhaftig eine Art Polster gewesen, ein randvolles Auffüllen der Glücks- , Hoffnungs- und Resilienzspeicher, um diesen Weg, der genauso aus höherer Hand gegeben, durchstehen zu können. Denn gebrochen hat mich nichts, trotz böser Einflüsse. Im Gegenteil – stärker denn je – im Wissen um die Existenz und Möglichkeit des vollkommenen Glücks (auch, wenn gerade abwesend) und in der klaren Überzeugung, dass wir nicht alleine und selbst die Landkarte unseres Lebens zeichnen, können schwere Routen genommen werden. Alles ist möglich. Nur, wer das Dunkel kennt, kennt das Licht und nur, wer das Licht kennt, kennt das Dunkel. Das Gnadenjahr war sozusagen das Sprungbrett, auf dem noch einmal Schwung geholt werden konnte, für das, was danach kam. Und der Schwung trägt bis heute. Hat die Seele einmal echtes und tiefes, dauerhaftes Glück erfahren, vergisst sie das nie – auch wenn sie es verlor – und sie wird zum Jäger des Glücks, zum Abenteurer, zum Hasardeur, um Spuren dieser Wonne wiederzufinden. Und diese Spuren lassen sich finden. Es ist wie Goldschürfen damals an den Rivers und Creeks dort im tiefen Westen, in Sturm und Wetter. Die Gezeiten sind widrig, jedoch jeder kleinste Nugget macht süchtig und treibt weiter und voran. Es bleibt offen, ob der große Klumpen sich finden lässt. Jedoch, man weiß: irgendwo ist er vergraben. Man hat ihn schon einmal gesehen.
Egal die Wahl
Ich hätte damals auch in England bleiben können. Was wäre dann gewesen? Alles wäre dann anders gekommen. Wie anders? Besser? Schlimmer? Anders. In dunklen Momenten denke ich manchmal, ich hätte vielleicht lieber diese Abzweigung genommen. Dann wäre in der Tat alles anders gekommen. Ja, natürlich. Es gab drei solcher Abzweigungen in meinem Leben. Jedes Mal war eine schwerwiegende, lebensbestimmende Entscheidung zu treffen. Ich hatte jeweils zwei vielversprechende Möglichkeiten vor mir. Jedoch der Eine Große Magier, the One Great Magician (Zitat: Van Morrison) bestimmt letztendlich den Weg. Unsere Entscheidungsfähigkeit bleibt begrenzt. Er hätte auch dann seine Mittel und Möglichkeiten gefunden, mir die eine Lektion meines Lebens, die eben nur für mich bestimmt ist, zuzuweisen (wie er sie jedem von uns zuweist) – wenn ich auch genau die andere Wahl getroffen hätte. Der Weg ist das eine, was man daraus macht, ist die Aufgabe. So oder so: er hätte – wie immer – gewonnen und auch dann hätte ich mir in dunklen Stunden gesagt: hätte ich nur den anderen Weg genommen…