Eine dialogische Ortsbestimmung von „Früher“ im Zeitstrahl der Gegenwart
von Daniel M. Wedig und Martin P. Wedig
D: Du Pappa, weißt Du noch? Früher?
M: Hm, dann laß uns mal wie Piggeldi und Frederick [1] darüber nachdenken.
D: Ich habe Dich morgens gefragt, wann früher wäre.
M: Das war, als Du mich „Peppe“ genannt hattest.
D: Genau! Und Du hast mich 3K genannt: kleiner kluger Kopf.
M: Ja, das war früher.
D: Das hat mich so verwirrt. Früher war nicht gestern, oder vorgestern. Wann war das eigentlich?
M: Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter. Es besteht die starke Vermutung, dass „Früher“ vor dem Winter war.
D: Du hattest aber auch gesagt: „Früher aufstehen“, wenn ich zur Schule musste. War „Früher“ also der Zeitpunkt, wann man los musste?
M: Früher ist schon mal besser.
D: War früher alles besser?
M: Früher gab es die Deutsche Mark und die war 100 Pfennig wert. Und unter einem Pfennig kannst Du Dir einen Euro vorstellen.
D: Warst Du früher also reich? Du hattest mir doch erzählt, dass Du ein armer Holzfäller warst. Und ich brauchte lange, um rauszubekommen, dass Mamma und Du Ärzte waren.
M: Also früher fuhren Mama und ich für 300 Mark nach Mallorca.
D: So viel Geld hattet ihr?
M: Ich musste den Patienten kein Geld abknöpfen. Mit dem Euro war das dann der Fall. Da hatte ich immer ein Bündel Zehner in der Brusttasche und die Putzfrauen, die auch die Wäsche machten, haben alles ordentlich aus den Kitteln genommen und der Mama gegeben. Aber das war nicht unser Geld, das gehörte den Krankenkassen. Das wollen übrigens die heutigen Ärzte wieder einführen. Ja, mit der D-Mark waren wir reich. Es reichte eben. Es reichte überhaupt allen früher.
D: Da war es früher schon besser. Früher war also mit D-Mark. Aber ihr hattet keine Smartphones. Habt ihr da noch getrommelt?
M: Früher war noch vor dem Smartphone, vor den Handys. Eben früher.
D: Wann wurden denn die Farben erfunden? Auf den CDs, die ihr mir geschenkt habt, waren alle Filme grau.
M: Man sagt: Das waren Schwarz-Weiß-Filme im Unterschied zu Buntfilmen.
D: Die Filme beweisen jedenfalls, dass die Welt früher ohne Farben war.
M: Dazu müssten wir über die Sehrezeptoren der Netzhaut, den Farbkreis, das PAL-System und die Entstehung des Farbeindruckes Gelb sprechen. Das lernst Du in der Sinnesphysiologie.
D: Ich weiß das schon. Aber unser Thema ist „früher“. Wann hätte ich denn aufstehen müssen, um pünktlich zur Schule zu kommen?
M: FRÜHER.
D: Früher ist also wichtig.
M: Früher erreichte man seine Ziele. Früher ist mit dem Präteritum verbunden …
D: „Früher war“ und „Früher ist“ – also überschreitet „früher“ den Zeitstahl.
M: „Früher“ beamt Dich in die Vergangenheit und bringt Dich in die Zukunft zurück, wenn Du früher aufbrichst.
D: Früher hätte ich Dich gerne gekannt, so wie meine Schulkameraden.
M: Dann schau mal ins Familienalbum.
D: Bist Du das, mit dem Kaninchen Wittepo, der Schildkröte Kröti und dem Hund Teddy?
M: Ja und Wittepo, Kröti und Teddy sind Zeitmarken von „früher“.
D: Erinnerungen können suggestiv beeinflusst werden, sagt unsere Psychologie-Professorin. Du hattest Doch auch weitere Tiere. Wie hieß Dein Elefant?
M: Ich hatte keinen Elefanten.
D: Das hast Du vergessen, weil Du alt bist.
M: Ich hatte sicher keinen Elefanten. Das beweist das Fotoalbum.
D: Ein Elefant hätte nie auf ein Foto gepasst. Du, hier ist ein Polaroid-Foto, auf dem alles grau ist. Das ist eine Detailaufnahme Deines Elefanten.
M: Früher ging ich mal mit meinem Vater in einen Zirkus, da habe ich einen Elefanten gestreichelt.
D: Siehst Du Deine Erinnerungen an früher werden wieder wach. Und danach hast Du den Elefanten nach Hause genommen. Wie hieß er denn?
M: Grüß Deine Professorin von mir: Ich lasse mir nichts einreden.
D: Manni hieß Dein Elefant.
M: Ich gebe auf. Mein Elefant hieß Manni.
D: Früher war nach starker Vermutung vor dem Winter und ist von Wichtigkeit. Bewusstseinsinhalte von „Früher“ können manipulativ verändert werden. Während das Kurzzeitgedächtnis für Handlungen relevante Daten bewahrt und fortlaufend mit der Umwelt abgleicht, vereist im Langzeitgedächtnis das Archiv „Früher“. Da sind die langen nicht herausgenommenen Fischstäbchen fest geeist. Um aus dem kalten Archiv frische Erinnerungen herauszuholen, werden Eisbrocken heraus gekloppt. Die Gedächtnisinhalte sind miteinander verklebt. Erinnerungen an Früher sind episodisch. Die frostigen Erinnerungen verkleben aber auch leicht mit willkürlich herangeführten neuen Eindrücken. Insbesondere Bilder sind geeignet Erinnerungen an Früher zu verfälschen. Optische Eindrücke und bildhafte Erinnerungen können durch einen in ein Familienfoto hinein retuschierten Fremden phantasierende Erklärungen auslösen. – Früher ist das Frühstück der Erinnerung. Wir schwelgen im Gewohnten und probieren Neues aus.
M: Beeindruckende Formulierung für einen Doppelstudenten. Lernt man das in Marburg?
D: Nein, das habe ich früher von Dir früher mitbekommen.
M: Früher ist unser Eigentum. So wie meine Erinnerung den Wert der D-Mark überhöht, ist das Frühere ein Schatz der gut verwahrt, der aber auch regelmäßig bewundert werden will. Das Frühere zelebrieren wir im Kreis der Vertrauten, tauschen aber auch mit zufälligen Begegnungen den Glanz des Gemeinsamen aus. Ein 94jähriger Dreher, Kommunaler, … war bei meiner letzten Tagung in Bremen ein redegewandter Gesprächspartner, mit welchem ich Werte von früher austauschte. Er machte mir richtig Freude auf die nächsten dreißig Jahre. Früheres ist der Fußtritt des Fortschritts.
D: Ach ja, früher war schon gut.
M: Früher ist besser.
D: Nun aber Frühstück.
[1] Piggeldi und Frederick sind zwei Schweine der Fernsehserie „Unser Sandmännchen“, welche sich angeregt durch eine Frage des jüngeren Brudes auf eine Wanderung begeben und peripatetisch diese Frage klären. Sie führen damit den Kindern die Lehrtechnik des dialogischen Unterrichts in einer Wandelhalle vor.