Erinnerung an den Heiligen Abend 1945

von Dorothee Durka

Mein Vater, Jahrgang 1897, wurde zweimal in einen Krieg eingezogen, mit 19 Jahren in den 1. und mit 42 in den 2. Weltkrieg.

Als der Krieg begann, war mein Bruder 10 Jahre alt, ich war gerade geboren, meine Mutter stand allein mit uns beiden Kindern. Das war damals fast der Normalfall, das muss nicht länger  beschrieben werden.

Zu Anfang des Krieges ging es uns noch ziemlich gut, meine Heimatstadt im Rheinland blieb lange von Bombenangriffen verschont – bis zum Herbst 1944. Da war es angesagt – ich weiß gar nicht, von wem – zur Sicherheit die Großstadt zu verlassen. Meine Mutter, die Großmutter und Nachbarn reisten in den Harz und wurden auf einem Bauernhof untergebracht. Ich selbst fand das prima, es gab gleichaltrige Kinder, und man konnte sich im Dorf gefahrlos austoben. Für meinen Bruder war es schwierig, mit dem Fahrrad oder Zug in das ca. 17 km entfernte Göttingen ins Gymnasium zu fahren, wo zeitweise Unterricht stattfand. Der Ernst der Lage und die Sorgen meiner Mutter um meinen Vater und um meinen Bruder waren mir mit meinen 5 – 6 Jahren weitgehend fremd. Mein Bruder mit seinen 16 Jahren wurde im Februar 1945 gemustert und bekam seine Einberufung für Anfang April. Die traurige Stimmung bei uns in dieser Zeit habe ich dann doch verstanden. Zum Glück kam er aufgrund des Einmarsches der Amerikaner im April noch einmal davon.

Im Sommer 1945 fuhren wir nach Hause zurück. Unser Haus stand zwar noch, aber es war von britischen Soldaten besetzt. Wir fanden in der Nähe eine kleine Wohnung in unserem Stadtteil, der im Gegensatz zum Stadtzentrum kaum zerstört war. Nach einigen Wochen konnten wir wieder in unser Haus einziehen, aber fanden die Einrichtung ziemlich demoliert vor. Es ist für mich eine unvergessliche Erinnerung, dass unser Klavier mit Apfelmus gefüllt war.

Meinen Vater vermisste ich nicht so sehr, weil ich ja in den ersten – inzwischen fast sieben – Lebensjahren ohne ihn aufgewachsen war, und wenn er im Urlaub nach Hause kam, hatte ich immer ein bisschen Angst vor ihm.

Was unsere Mutter jahrelang empfunden und gelitten hat, ohne etwas über ihren Mann zu wissen, das war mir als Kind sehr fern, darüber habe ich erst als Erwachsene – selbst Ehefrau und Mutter – oft nachgedacht. Das konnte ich meine Mutter nicht mehr fragen, denn sie ist schon vier Jahre nach Kriegsende mit 49 Jahren an Krebs gestorben. Auch mein 10 Jahre älterer Bruder, der 2021 mit 92 Jahren starb, hatte das nicht mehr rekonstruieren können.

Weihnachten – Stern (freie Lizenz pixabay)

Aber 1945 gab es ein echtes Happy-End: Monate- oder jahrelang hatten wir von unserem Vater nichts gehört. Und dann bekamen wir das schönste Weihnachtsgeschenk, das wir uns vorstellen konnten: Am Heiligen Abend 1945 stand unser Vater vor der Tür, völlig überraschend, ohne Vorankündigung. Ich war ihm gegenüber noch etwas schüchtern, aber meine Mutter und mein Bruder konnten unser Glück kaum fassen. Ich erinnere mich noch gut, wie er in der Türe stand, unrasiert, abgemagert, erschöpft. Er kam aus französischer Gefangenschaft. Wir wissen nicht, auf welche Weise er den weiten Weg zu uns zurückgelegt hat.

Er brachte sogar ‚Weihnachtsgeschenke‘ mit, die er vom Roten Kreuz bekommen hatte: Schokolade und Süßigkeiten, etwas mir noch ganz Unbekanntes in dieser Zeit.

Noch in meinem hohen Alter denke ich jedes Jahr an Heiligabend an diese zu Herzen gehende Geschichte.