Erinnern und Erinnerungen

von Hans-Dieter Frieß

Ich habe beim Stichwort ‚Erinnern und Erinnerungen‘ die Begriffe zunächst wörtlich genommen und in meinem Gedächtnis nach Erinnerungen gesucht, auf die ich gerne oder betrübt zurückblicke. Während ich dies tat und einige Fundstücke niederschrieb, drängte sich mir die Frage auf, wie sich das Erinnern an Vergangenes und die Vergangenheit zueinander verhalten.

Ich erinnere mich an meine Großmutter mütterlicherseits, die zehn Kinder geboren hatte, wovon die Hälfte zu ihrer Lebenszeit, alle im Erwachsenenalter, an Krankheiten verstarben. Sie war darüber nicht verbittert geworden oder hatte Klage geführt, im Gegenteil, sie wirkte eher zuversichtlich und gütig, trotz aller Tiefschläge. Das ist meine Erinnerung, aber ich halte sie für trügerisch, denn ahnungsvoll entstehen vor meinem geistigen Auge Situationen, in denen sie traurig war. Ich glaube, dass sie sich mehr Zuwendung und Verständnis ersehnte.

Dies ist der Unterschied: Die Vergangenheit ist objektiv und unveränderlich, während die Erinnerung subjektiv ist und eine veränderliche Rekonstruktion von Erlebnissen hervorbringt. Gefühle spielen eine große Rolle. Wer sich erinnert, beeinflusst das Hier und Jetzt mit seinen Entscheidungen.

Da ich mich seit einigen Wochen vermehrt mit der Logotherapie von Victor E. Frankl beschäftige, habe ich Hinweisen nachgespürt, welche Stellung die Logotherapeuten zum Thema Erinnerungen und Vergangenheit einnehmen.

Elisabeth Lukas, die bedeutendste Schülerin Frankls, spricht davon, dass die Beschäftigung mit der Vergangenheit, das Erinnern also, ein Raubtier sein kann, das die Gegenwart frisst. Wenn jemand ständig zurückdenkt und mit seinen Erinnerungen hadert, dann kann er nicht in der Gegenwart leben. Sie sagt, die Präsenz geht verloren und somit die Erkenntnis über die Sinnhaftigkeit des Augenblicks.

Uwe Böschemeyer, ebenfalls ein Schüler Frankls, stellt fest, dass die Vergangenheit zwar Schnee von gestern ist, nicht aber die damit verbundenen Gefühlskräfte. Er nennt sie Erinnerungsfesseln.

Ich weiß aus eigener Erfahrung, was eine Erinnerungsfessel ist. Während meines Berufslebens wurde ich einmal Opfer einer Anfeindung. Ich sah mich Vorwürfen ausgesetzt, die mich verblüfften und deren Tragweite ich damals nicht einschätzen konnte. Noch heute ist es mir schleierhaft, wie mich jemand so sehr hassen konnte. Aber es war nicht zu leugnen. Ich bin mir sicher, dass ich zu Unrecht angegriffen wurde und die Enttäuschung über meine Vorgesetzten, die den Vorfall unter den Tisch kehrten, gab der Sache den Rest. Im Großen und Ganzen denke ich gerne an mein Berufsleben zurück und ich bin auf einige Erfolge stolz, aber trotzdem ist es mir nie ganz gelungen, diese Erinnerungsfessel vollständig zu kappen. Ein kleiner Stich bleibt, wenn die Wunde wieder einmal juckt.

Käme ich heute noch einmal in die Situation, würde ich vermutlich anders entscheiden. Aber ich sage dies spekulativ. Hätte ich doch und was wäre, wenn … sind nach Uwe Böschemeyer sinnlose Überlegungen, denn ich hatte meine Entscheidung getroffen, weil sie mir einleuchtend und angemessen erschien. Unter dem rückwärtigen Blickwinkel das Lenkrad in eine andere Richtung drehen zu wollen oder Reue zu zeigen, ist die falsche Einstellung und verstellt den Blick auf die gegenwärtigen Möglichkeiten.

Von Victor E. Frankl ist ein Gleichnis dokumentiert, worin er die Vergangenheit mit einer Scheune vergleicht. In jedem gegenwärtigen Augenblick ist Erntezeit auf dem Getreidefeld. Neben dem Korn landet auch einiges an Unkraut im Speicher. Das abgeerntete Stoppelfeld sind die uns verbleibenden Möglichkeiten. Je größer das Stoppelfeld, desto weniger Lebenszeit bleibt in einer geschrumpften Zukunft. Wir sollten mit Stolz auf unsere Ernte blicken, denn niemand kann sie uns nehmen, da sie objektiv und unveränderlich für ewige Zeiten lagert.

Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als meine Eltern eine Landwirtschaft betrieben. Das Korn wurde, nachdem es vom Feld kam, noch einmal einer Reinigung unterzogen. Zu dem Zweck hatte mein Großvater während der Inflation eine Putzmühle für einige hundert Millionen Reichsmark, wenn nicht Milliarden, erworben. Am Tag, als er eine Kuh verkauft hatte, nahm er das Geld und erwarb die Putzmühle. Der Fabrikant zahlte damit sofort seine Arbeiter aus, die loseilten, um das Geld auszugeben. Etwas war aus dem Erlös des Kuhhandels übrig und mein Großvater erwarb dafür Stoff für Kleidung. Die verbliebenen Millionen nahm er mit nach Hause. Am anderen Tag waren sie wertlos.

Was die Putzmühle aussiebte und ausblies, ist der Unrat, der im Korn enthalten ist und ebenfalls, bildlich gesprochen, in die Scheune unserer Vergangenheit wandert. Damit gilt es sich zu beschäftigen, sagt Frankl und er schlägt vor, das Verhältnis zu beeinflussen. Solange die Ernte noch nicht abgeschlossen ist, können wir das geputzte Korn einlagern und das Unkraut damit aufwiegen. Jede Versöhnung, jeder Dank, jede Hilfe, jedes freundliche Wort, jedes Geschenk … sind gutes Getreide und formen unsere Identität im positiven Sinn, bis das Feld abgeerntet ist.