Die alten Narren

von Beate Seelinger

Wir Alten sind doch schon ein ganzes Stück gegangen. Wir stehen doch schon ein bisschen drüber. Nicht, dass wir abgeklärt wären – und schon mal gar nicht in den aktuellen Zeiten – jedoch etwas Abstand zum allgemeinen Chaos haben wir doch, oder? Also könnte man sagen, dass wir mit zunehmendem Alter etwas freier geworden sind.

Ich für mich jedenfalls habe diesen Eindruck. Da man ja sowieso von den weisen Jungen nicht mehr ernst genommen wird, kann man sich doch Einiges erlauben. Ich für meinen Teil habe heutzutage viel weniger Probleme damit, jemandem zu sagen, dass ich ihn oder sie abgrundtief dämlich finde. Ich musste mir das gleiche Urteil über mich im Laufe meines Lebens so oft anhören, dass ich jetzt einfach so tue, als sei das ganz normal, dass man sich beschimpft. Mit dieser Masche kommt man ganz gut durch, und da Moral heutzutage ja sowieso ein recht flexibler Begriff geworden ist, tue ich auch so, als sei es ganz normal, kein Gewissen zu haben. Ob ich für mich persönlich ein Gewissen habe ist eine andere Frage. Jedoch im sozialen Umgang heute ist Gewissen eher hinderlich. Also tue ich so, als hätte ich keines, habe von daher recht große moralische Bewegungsfreiheit und füge mich so ganz gut in die Gesellschaft ein.

Andererseits habe ich dann wieder viel Gewissen. Es kommt darauf an, mit wem man zu tun hat. So gehe ich heute mit meinen 71 Jahren öfter zu Demos als in meiner Jugend. Ich laufe auch recht ungeniert hinter ziemlich unpopulären Transparenten her. Bis mich der Verfassungsschutz durchleuchtet hat, lebe ich ja doch nicht mehr. Außerdem nehmen die Alte wie mich gar nicht mehr ernst. Ich werde wohl kaum noch eine Revolution anzetteln. Da ist man doch einigermaßen frei.

Gottlob ist mir nun auch endgültig gleichgültig, was andere über mich denken und sagen. Sie haben bereits alles, was möglich ist – im Guten (wenig) und im Schlechten (viel) – über mich gesagt. Da kann man mit keinem Skandal mehr kommen. Frei nach dem Motto: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich`s völlig ungeniert“ verbringe ich meine Zeit in seliger Narrenfreiheit und lache mir ins Fäustchen. Es macht Spaß, zu wissen, dass die Leute meinen, man würde sich Gedanken darüber machen, was sie von einem denken. Das war einmal. Heute ist es ein Spiel, Ihre Empörung zu provozieren. Denn es passiert nichts, wenn sie sich empören. Mir nicht. Ihnen aber. Und das ist schon spaßig.

Also trage ich an einem Tag giftgrüne Pumphosen und an einem anderen den klassischen britischen Trench. Je nach Laune und nicht nach Gebot. Manche Leute sagen auch „Strampelhosen“ und denken, damit hätten sie ein vernichtendes und zersetzendes Urteil über meinen Stil und mich abgegeben. Wenn die jedoch mein ebenso vernichtendes Urteil über den gesamten nationalen Bekleidungskonsens kennen würden, wäre ich wahrscheinlich bis zum Ende des Jahres ausgebürgert. Man hat die Freiheit im Straßencafé zu sitzen und die Welt vorbei flanieren zu lassen, ohne sich dazugehörig fühlen zu müssen. Die Jungen diktieren Moral, Mode, Stil, Gesetz, Ethik und Benimm, und da zwischen deren Vorstellungen von all dem und unseren Lichtjahre liegen, braucht man sich damit gar nicht mehr auseinanderzusetzen. Berührungspunkte gibt`s sowieso nicht mehr und es macht sich auch keiner mehr die Mühe, welche zu suchen oder zu schaffen.

Was wir Alten uns unter „Werten“ vorstellen, gilt gemeinhin als Narretei in diesen Tagen. Die Narren jedoch waren schon immer die Freiesten. Und so sollten wir uns nicht ärgern, dass wir nicht mehr ernst genommen werden, sondern uns unserer Freiheit freuen und sie nach Kräften auskosten. So frei wie im Alter ist man nie, auch wenn es heißt, für die Jugend sei die Freiheit reserviert. In der Jugend weiß man halt noch nicht so viel. Da verstrickt man sich leicht. Und Stricke behindern bekanntlich die Freiheit. Leben wir also völlig ungeniert – es stört nicht wirklich. Lachen werden sie sowieso, auch wenn wir völlig ernsthafte und gescheite Menschen sein sollten. Wenn man sich das einmal bewusst gemacht hat, ist alt werden eigentlich ganz einfach.