Mit den/m Wünschen, das ist so eine Sache…!

von Beate Seelinger

Das aktuelle Thema fürs LernCafé ist eines, das viel hergibt. Dazu kann man eine Menge sagen, dazu weiß doch jeder etwas. Wünsche hat und hatte jeder und jede, ohne Ausnahme. Dazu kann man schreiben – und das will ich tun. Dies wird ein sehr persönlicher Text werden und diejenigen, die autobiografisches Schreiben nicht mögen, warne ich schon jetzt. Nicht jedes Leben eignet sich dazu, autobiografisch-literarisch verwurstelt zu werden. Meines an sich auch nicht. Dennoch, hier ein Ausflug in meine Lebenswelt, zum Thema Wünsche(n).

Es fing schon früh an mit den Wünschen, mit den großen Wünschen. Schon bald durfte man zu Weihnachten einen Wunschzettel schreiben und ohne Umschweife anmelden, was man gerne gehabt hätte. Meine Oma lobte mich noch zu Erwachsenenzeiten dafür, dass ich ansonsten als Kind nie gefordert hatte: „Oma, das hätte ich gerne!“, sondern, dass ich immer nur verlauten ließ: „Oma, so etwas habe ich noch gar nicht gehabt.“ Das hat mir niemand beigebracht oder antrainiert, so sah ich die Dinge. Und es gab viel, was ich noch nicht gehabt hatte.

Aber beim Wunschzettel war das anders. Da durfte offen gesagt werden, welche größten Wünsche man hegte. Und so stand da auch schon in ganz früher Kindheit ein Herzenswunsch in ungelenken Buchstaben auf dem Sternenpapier. Ein einziger: ein „Schlummerle“!

Vielleicht erinnern sich einige Altersgenossinnen an dieses Schlummerle. Es löste sozusagen die Schildkröt-Puppen ab, ließ sich durch weiche, babytypische Glieder lebensecht bewegen und unter einem üppigen Blondschopf blickte ein wahrhaft hinreißendes Puppengesichtchen hervor. So jedenfalls fand ich. Solch ein Schlummerle wünschte ich mir inniglich. Dann hätte ich auch mit Puppen gespielt und den Bär mal Bär sein lassen. So ein Schlummerle war mein Kindertraum.

Langer Rede kurzer Sinn: das Schlummerle gab`s nicht. Nicht zu Weihnachten, nicht zu Ostern, nicht zum Geburtstag. So ein Schlummerle war viel zu teuer. Und die Verwandtschaft versagte, als es darum ging, einmal eine Koalition zu bilden und gemeinsam eine solche Puppe zu kaufen und zu schenken. Sie scheiterte an familieninternen kleinen Animositäten und an der Eifersucht, denn jeder wollte ja das eine treffende Geschenk überreichen. Am Ende gab dann gar keiner ein treffendes Geschenk ab. Im Himmelbett lag zu Weihnachten eine abgrundtief hässliche, harte, viel zu große Babypuppe, der ich einen kurzen Blick schenkte und die dann für den Rest ihrer Existenz unbeachtet in einer Ecke meines Kinderzimmers lag. Ich bekam nie ein Schlummerle und so blieb der erste große Wunsch unerfüllt.

Caren war meine Schulfreundin und sie war ein bisschen pummelig. Deswegen, und weil ihre Eltern ein großes Portemonnaie besaßen, musste sie ins Ballett. Caren wollte jedoch nicht ins Ballett. Somit wurde ich abgeordert, mit ihr zu ihren Trainingsstunden in das feine Tanzinstitut zu fahren. Ich mochte das an sich ganz gerne, zumal es auf der Fahrt dahin immer Coryfinchen gab. Und ich entwickelte eine heiße Liebe zu dieser klassischen Tanzkunst. Diese Schühchen und diese Tütüs! Und wie die Mädels da aufgereiht an der Stange standen und zu fremd klingenden Befehlen alle die gleichen, schönen Bewegungen vollzogen! Die Strenge der Ballettlehrerin beindruckte mich zutiefst und ich fürchtete sie ein wenig. Jedoch von der herben Dame ein Lob zu erhalten, musste das Größte sein. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als mit Caren an diesen Trainingsstunden und später auch Aufführungen teilnehmen zu dürfen. Ballett war klasse.

Ich durfte nicht in die Ballettschule. Das war viel zu teuer! Und sicher würde mich auch bald die Lust verlassen, meinte meine Mutter. Dieser nächste große Wunsch erfüllte sich somit auch nicht. Ich lernte nie Balletttanzen und bin bis heute tänzerisch völlig ungelenk. Schade.

Als nächstes versuchte ich es mit einem Hamster. Einen Goldhamster hätte ich zu gern gehabt. An einen Hund war ja gar nicht zu denken, obwohl das ein riesiger Wunsch gewesen wäre. Ich wuchs als Einzelkind auf und wir lebten immer sehr abseits. Nach solch einem Spielkameraden habe ich mich von Herzen gesehnt. Aber ein Goldhamster hätte es auch getan. Ich bekam keinen Goldhamster. Wer sollte sich denn um das Tier kümmern? Kinder verlieren ja doch schnell die Lust an so etwas. Ein Goldhamster würde nicht ins Haus kommen. Das war`s dann mit Herzenswunsch Nummer drei.

Der gewünschte Bruder kam nicht an, wir fuhren nicht ans Meer in Urlaub, sondern in die Berge, wo mir schlecht wurde, wenn ich für Bergtouren in aller Herrgottsfrühe aufstehen musste. Ich wurde auf ein anderes Gymnasium geschickt als Caren, Klavierspielen durfte ich auch nicht lernen – ich wagte noch nicht einmal zu fragen, denn schon Blockflöte wurde abgelehnt. Und schon früh wurde mir klar, dass das mit dem Wünschen so etwas war. Wünsche wurden nicht immer wahr. Eigentlich sehr selten. Und auch, wenn ich später einsah, dass Goldhamster als nachtaktive Tiere unter meinem auf sie gerichteten Spieltrieb eher gelitten hätten und auch, wenn ich im Nachhinein erkannte, dass „mein“ Gymnasium sich letztendlich als die bessere Schule erwies – zunächst hatte es einmal geheißen, sich von dem entsprechenden Wunsch zu verabschieden. Jedoch, wer kennt das nicht? Wie viele Kindheitswünsche bleiben unerfüllt! Das kennt doch jeder.

Als Erwachsener oder werdender Erwachsener naht dann die Zeit, in der man für seine Wünsche selbst Verantwortung übernehmen muss. Man darf selbst wählen und hat die Möglichkeiten, sich für seine Wünsche einzusetzen. Mit sechzehn wünschte ich mir seltsamerweise nicht Glück, Reichtum und Erfolg, sondern Einsicht und Liebe. Dies schienen mir die wichtigsten Werte im Leben zu sein. So steuerte ich auf ein Studium zu und suchte mir schon früh einen Jugendfreund – den ich auch voll Enthusiasmus fand – und mit dem ich sechs Kinder haben wollte. Das mit der Einsicht hatte ich mir so vorgestellt: ich würde mit Shakespeare, Goethe, Thoreau, Ezra Pound und vielen anderen mehr bei einem Gläschen Rotwein am Kamin sitzen und die Weisheit der Welt und des Lebens lesend in mich aufsaugen. Das mit der Liebe war ja durch die Beziehung zu Stephan schon früh geregelt und seine vielen Brüder und Schwestern ließen mir ein Leben mit einer kinderreichen Familie als hohes Ziel erscheinen. Ja, dies beides wünschte ich mir: Einsicht und Liebe. Das schien mir nicht zu viel, aber wert- und sinnvoll.

Nach neun Jahren und einigen Illusionen weniger trennte ich mich von Stephan. Noch immer hatte ich die kinderreiche Familie im Sinn, nur in abweichender Konstellation. Ich studierte inzwischen Literatur und las meinen Shakespeare, meinen Goethe und meinen Ezra Pound. Dann aber kam der große Einschnitt: mit fünfundzwanzig brach eine bedeutsame Erkrankung in mein Leben ein und diese sollte alles verändern.

Kurz vor dem Mündlichen musste ich mein Studium nach sehr gut bestandener Examensarbeit abbrechen. Die Krankheit ließ intellektuelle Anfordernisse nicht mehr zu. Ich wich auf eine Umschulung aus, in der ich meine Kenntnisse wenigstens zum Teil anbringen konnte und stellte damit die Weichen für ein ganz anderes Berufsleben als geplant. Ich sollte nicht Lehrerin werden, ich sollte auch keinen akademischen Abschluss erzielen. Da sollten zwei Lebenswünsche also nicht wahr werden. Zwar brachte auch der alternative Weg einen interessanten Beruf mit sich, aber er war nie Berufung. Da hieß es loslassen. Ich stand vor der ersten großen Lektion.

Lange war ich krank, fast mein ganzes jugendliches Leben. Es sollte sich keine neue haltbare Liebesbeziehung mehr ergeben. Mit fünfunddreißig und ungebunden wurde mir mit einem Mal schlagartig klar, dass ich keine Kinder haben würde. Ich heulte eine Woche lang. Danach hatte ich mich von diesem Wunsch losgerissen. Los g e r i s s e n. Es war überstanden, ich hatte dieses – soll man es so nennen? – Defizit akzeptiert. Eine Weile noch sah ich kleine Kinder mit Bedauern. Dann erlebte ich aus der Distanz die Mutterschaft vieler meiner Freundinnen mit. Ich weiß, es ist unpopulär, aber heute bin ich auf Kinder nicht mehr scharf. Genauer gesagt, ich mache einen großen Bogen um sie. Man hat mir viel zu viel von seinem eigenen Glück vorgeschwärmt. Und ob meine Kinderlosigkeit so unglücklich sein musste, erschien mir immer fragwürdiger. Heute spielt der unerfüllte Wunsch keine Rolle mehr. Jedoch zunächst musste er losgelassen werden.

Ich wurde mittelalt und älter und bin noch heute ein Single. Auch der Wunsch nach einer wahren Liebe in meinem Leben hat sich nicht erfüllt. Ich bin aufgrund der Einschränkung, die ich hatte, nicht viel gereist und habe kulturell und politisch viel verpasst. Ein Wunsch im Hintergrund meines Bewusstseins wäre eine Tätigkeit in der Entwicklungshilfe gewesen. Daran hatte ich überhaupt nicht mehr denken dürfen, ich konnte froh sein, wenn ich meinen Alltag in meinem Ersatzberuf zur Tugend machen konnte. Lebenswünsche, die ein Schicksalsschlag nicht in Erfüllung gehen ließ. Viele. Alle.

In der Tat, keiner meiner Lebenswünsche wurde wahr. Ein anderer dann doch: ich wurde wieder gesund, jedoch kam dies weniger der Erfüllung eines Wunsches gleich, als vielmehr dem atemlosen Ende eines jahrelangen Kampfes. So war dies kein Triumph, kein gefeierter Erfolg, sondern das Erreichen eines Ziels unter vielen Schmerzen. Heute geht es mir im Großen und Ganzen gut. Es gibt noch vieles, was ich auch ohne Studium, ohne Beziehung, ohne Kinder, ohne Berufung tun kann. Ich lebe im Haus meiner Mutter in einer schönen Wohnung und versorge die Seniorin, Haus und Garten, betätige mich in Organisation und Verwaltung unseres Zuhauses. Auch das ist keine liebenswerte Berufung, aber ich finde Sinn und Aufgabe darin, die mir Zeit lassen für einige Interessen. Ich habe mich ganz gut eingerichtet in meinem Leben. Sicher hat die Aufgabe meiner Wünsche seelische Spuren hinterlassen. Es entspräche nicht der Wahrheit, wenn ich dies nicht zugeben würde. Aber neben einigen Gebieten der Dürre gibt es doch auch viele liebenswerte Blumenbeete. So kann ich auf ein durchgehend sehr glückliches Jahr in Großbritannien*) zurückblicken. Vor meiner Erkrankung. Zwar war auch da der Wunsch entstanden, dort zu bleiben und dort zu leben. Jedoch daraus wurde aufgrund von Sachzwängen nichts. Dennoch, es war ein Jahr voller Glück und ich habe erlebt, was sattes Leben bedeutet.

Man könnte fragen, worin der Sinn liegt, in einem Leben ohne Erfüllung der großen Wünsche und Ziele. Erstens gibt es da die kleinen, die dann doch hier und da wahr werden, und dann muss man zum Verständnis dieser Frage vielleicht auch eine höhere Warte einnehmen. Mein Leben war nicht ein Leben der Erfüllung, sondern eine große Lektion im Loslassen, auch durch einige Ortswechsel und eine Vielzahl von Trennungen. Und wohin schreiten wir denn alle, wenn nicht hin auf das letzte große Loslassen? So war mein Weg ein Einüben ins Verabschieden von Wünschen wie auch von Anhaftungen und vielleicht darf ich hoffen, dass ich dereinst leicht gehen kann. Ich habe gelernt, was Loslassen bedeutet und damit auch Einsichten gewonnen. Könnte ich so am Ende vielleicht sagen, dass sich ein Wunsch dann doch erfüllt hätte? Nicht am Kamin bei Rotwein – das war ja auch etwas naiv gedacht – aber gelebte Einsicht vielleicht. Nicht, dass ich den lieben – nicht immer, manches Mal auch dunklen – Gott nicht öfter gefragt hätte, was er sich bei meinem Schicksal eigentlich gedacht habe. Der Weg des Loslassens ist letztendlich auch ein spiritueller und da finde ich dann auch die Antwort auf mein Fragen. Dieser Weg hinterlässt Spuren, kann jedoch letztendlich gerade auch Erfüllung bedeuten.

Ich bin achtundsechzig, bald neunundsechzig. Die verheißene Erfüllung im Loslassen habe ich noch nicht wirklich und letztendlich gefunden. Natürlich habe ich noch nicht alles losgelassen. Je nachdem werden mir noch ein paar Jahre geschenkt. Ich werde nicht mehr studieren, werde keine Weltreise mehr unternehmen, werde nicht auf Enkelkinder schauen und vieles nicht mehr aufholen können. Was kann noch kommen? Ein bisschen Liebe, das wär´s – sonst vermisse ich eigentlich nichts. Und das mit der Einsicht geht ja sowieso ein Leben lang weiter. Wer weiß, was das Leben noch in petto hat? Das Alter wird noch einige Übungseinheiten im Loslassen mit sich bringen, da bin ich mir sicher. Vielleicht hat es aber auch noch die eine oder andere Überraschung im Gepäck. Das wünsche ich mir. Denn das Wünschen hört nie auf.

*) siehe Lerncafe 82 “Etwas andere Reisen”