Manchmal kommt es anders…

von Beate Braun

(…) Die gerade veröffentlichte Ausgabe des LernCafés habe ich mit Interesse gelesen, manche Artikel sogar zwei Mal, einer hat mich tief berührt; andere Wünsche habe ich selbst gehabt, die nicht in Erfüllung gegangen sind, wie z.B.

  • einen Roller mit Vollgummi-Reifen (viel zu teuer)
  • einen Puppenwagen aus weißem Korbgeflecht mit Verdeck (viel zu teuer)
  • Rollschuhe (die ich nicht bekam wegen der angeblichen Verletzungsgefahr)
  • Abitur und Studium (kein Geld in der Familie, musste wie meine beiden Brüder nach den Einjährigen das Gymnasium verlassen)
  • Einen 2jährigen Aufenthalt in Australien, wo ich bereits eine kostenlose Schiffsreise und eine Stelle bei einem Patentanwalt in Sydney hatte
  • Eigene Kinder – trotz 8maliger OP kein Erfolg

Ich habe vom Loslassen gelesen, so ging es mir auch.

Und jetzt kommt, was bei mir daraus geworden ist:

Meine Mutter hat nach 15 Jahren noch einmal ein Mädchen und nach 20 Jahren noch einmal einen Jungen geboren.

Das Gartenhaus um 1940 (© Beate Braun)

Die beiden Kleinen habe ich mit den Dingen, die ich nicht bekommen konnte, verwöhnt. Es gab den Roller mit Vollgummi-Reifen und auch den weißen Korb-Puppenwagen.

Das Wichtigste war mir, meiner Mutter Wünsche zu erfüllen. Mit meinen ersten Geldern kaufte ich ihr ein Kleid, später goldenen Schmuck, noch später einen Pelzmantel. Sie hatte sich während des Krieges so abgeschuftet. Wir waren 1943 in ein Gartenhaus gezogen, wo es kein Licht und kein Trinkwasser gab; es dauerte einen Monat, bis wir Elektrizität hatten; bis eine Wasserleitung gelegt war und der Weg zum entfernteren Nachbarn wegen Trinkwasser nicht mehr nötig war, dauerte es fast 6 Monate. Mein Vater war im Krieg, um uns herum fielen Bomben, meine Mutter zog uns drei Kinder immer unter den Küchentür-Rahmen, der die sicherste Stelle in dem Gartenhaus war.

Haus nach Umbau 1958 (© Beate Braun)

Erst nach dem Krieg wurde die Veranda zugemauert, so dass ein größeres Wohnzimmer entstand. Über eine Treppenleiter, die von der Küche ins Dachgeschoss führte, stiegen wir ins Obergeschoss, um dort zu schlafen. Das bedeutete, dass man sich in der kleinen Küche kaum bewegen konnte, besonders weil vor dieser Leiter eine Badewanne stand, die normalerweise mit Brettern und einer Decke abgedeckt war und nur zum Wochenende zum Baden benutzt wurde. Wir mussten sie händisch füllen und auch wieder händisch leeren. Alle Familienmitglieder badeten im gleichen Wasser – aber das war im Krieg wohl überall so.

Letzter Umbau (© Beate Braun)

 Richtig umgebaut wurde das Haus erst nach 1967, als mein Vater beim Bundesgrenzschutz arbeitete – und wir drei älteren Geschwister erwachsen waren.

Nachdem eine schulische Weiterbildung nicht möglich war, habe ich mir vorgenommen, das Bestmögliche aus allem zu machen. Nach der Lehre wurde ich Sekretärin des Inhabers meiner Lehrfirma, die ca. 200 Mitarbeiter hatte.

Nach einem weiteren Jahr wollte ich selbständig werden und ging nach Düsseldorf; ich arbeitete bei Henkel (Imi, Ata, Persil, Klebstoffe usw.) in der Patentabteilung, wurde nach 2 Jahren dort Assistentin des Bereichsleiters. In Düsseldorf war ich 13 Jahre mit 7monatiger Unterbrechung für einen Au-Pair-Aufenthalt in Eastbourne. Dort lernte ich in einer Abendschule für Engländerinnen, die ihr Abitur nachholen wollten, endlich Englisch, denn wir lebten in der französischen Zone. Deshalb hatten wir im Gymnasium zuerst Französisch, dann Latein und erst als letztes Englisch. In der Berlitz-Abendschule in Düsseldorf lerne ich weiterhin jede Woche einmal Englisch und Französisch, aber bei meiner Ankunft in England traute ich mich nicht viel mehr als „yes“ oder „no“ zu sagen.   

In Düsseldorf lernte ich auch meinen ersten Mann kennen und heiratete. Damals auch die OP’s, um Kinder zu bekommen. Dann wurde mein Mann nach Ulm versetzt, ich bewarb mich bei einer weltbekannten Hydraulik-Firma in Elchingen beim Vertriebsgeschäftsführer als Assistentin. Ich habe in den 33 Jahren dort 2 Vertriebsgeschäftsführern, anschließend einem Vorsitzenden der Geschäftsführung, und am Schluss einem Vorstandsmitglied einer Führungsgesellschaft assistiert. Ich leitete zusätzlich die Reisestelle und war Beauftragte für das Umweltmanagement-System mit der Aufgabe, unser Unternehmen gemeinsam mit einem Arbeitskreis nach EG-Öko-Audit zu zertifizieren. Mein Umweltmanagement-System wurde mit einem Preis ausgezeichnet, der unserer Firma von der IHK Schwaben im Rahmen einer Feierstunde überreicht wurde. 2 Monate, bevor ich 65 Jahre alt wurde, ging ich in den Ruhestand. Meine Jobs haben mir immer Spaß gemacht – denn obwohl ich damals noch mit 63 Jahren in den Ruhestand hätte gehen dürfen, hing ich die beiden Jahre an.

Ach, zu dem unerfüllten Wunsch von Australien muss ich noch etwas schreiben:

Nach meinem England-Aufenthalt ging ich zurück zu Henkel und es reifte der Wunsch in mir, für zwei Jahre nach Australien zu gehen. Mein Englisch war durch den 7monatigen Aufenthalt in England und vielem Kontakt mit Engländer*innen ziemlich gut geworden. Eine Kollegin von Henkel wollte mich begleiten, wir waren also zu zweit. Die Schiffspassage hätte ich damit bezahlen können, in dem ich andere Ausreisewillige während der langen Schiffsreise in Englisch unterrichte. Mit dem Patentanwalt in Sydney hatte ich als Assistentin des Bereichsleiters Patente von Henkel schon Kontakt und dort hatte ich ein Stellenangebot. Alle erforderlichen Aus- und Einreiseformalitäten hatte ich schon hinter mir, auch eine peinliche Gesundheitsuntersuchung, die man heute als sexistisch bezeichnen würde. Zwei Tage vor meiner Abreise erreichte mich ein Brief meines Vaters:

Mein kleiner Bruder war gerade 9 Monate alt geworden, meine Mutter musste sich operieren lassen, der Ausfall würde mindestens 6 Wochen dauern. ´Wer solle sich um meine kleinen Geschwister kümmern, wenn meine Mutter die OP nicht überleben würde, dächte ich auch an meine Mutter, die so an mir hinge, und mit meinem Hang zum Männlichen (ich war immer mit meinen beiden Brüdern und deren Freunden unterwegs gewesen, solange ich noch zu Hause wohnte) würde ich in Australien sicherlich einen Mann finden, dort heiraten und nicht mehr zurückkommen. Ich solle doch bitte an meine Mutter denken! `

Den Brief habe ich aufbewahrt und auch später immer wieder gelesen.

Was glaubst Du, was ich gemacht habe? Ich habe in meiner Firma gefragt, ob ich meine Stelle behalten darf, musste meiner Freundin, die mitwollte nach Australien, eine Absage erteilen – sie fuhr dann auch nicht und hat nie wieder mit mir gesprochen. Ich habe meinen großen Traum aufgegeben!!!!

Aber nicht ganz, denn als ich so ca. 6 Jahre nach der Scheidung pekuniär einigermaßen wieder Fuß gefasst hatte, habe ich mir vorgenommen, jedes Jahr eine Weltreise zu unternehmen. Ich arbeitete Tag und Nacht und gönnte mir nichts, kein Theater, keinen Film, keine kleinen Urlaube, keine Freunde (meine Firma und meine Kolleg*innen waren sowieso Heimat für mich – und natürlich meine Familie) – alles für eine große Reise im Jahr. So habe ich also auch Australien kennengelernt, einmal war ich für 14 Tage dort, habe die Outbacks mit Ayers Rock und Alice Springs, das Great Barriere Reef, auch den Norden von Australien sowie natürlich Sydney besucht um anschließend weiterzufliegen nach Neuseeland. Auch bei einer anderen Reise zu den Südsee-Inseln, die in Kalifornien begann und in Neuseeland und Australien endete, habe ich Australien noch ein weiteres Mal besucht.

Nach meiner Scheidung 1974 und 25 Jahren alleine leben habe ich meinen jetzigen Mann kennengelernt, den ich 2001 heiratete! Ich habe jetzt drei Enkelkinder, inzwischen 18, 20 und 23 Jahre alt, die ich in ihrer Kindheit begleiten durfte und die auch jetzt noch ab und zu um Hilfe bitten.  

Das heißt also, obwohl ich Wünsche hatte, die sich nicht erfüllen ließen, hatte und habe ich ein sehr erfülltes Leben! Ich bin – wie Barbara – wunschlos glücklich!

Du weißt, ich bin nicht in der Lage, einen schönen Artikel für das Lerncafé zu schreiben, aber die Artikel, die ich sehr intensiv gelesen habe, haben mich dazu gebracht, über meine Wünsche und darüber, was daraus geworden ist, zu schreiben, auch wenn es mit den Zeiten etwas durcheinandergeht.

(…)