von Maria Schmelter
Heute hatte die kleine Fee ihren ersten Auftrag zum Thema große Wunscherfüllung. Vielleicht denken Menschen nicht darüber nach, aber Feen müssen ihr Handwerk auch von der Pike auf lernen.
Die kleine Fee war mächtig aufgeregt. Bisher hatte sie schon einige Aufträge gehabt, die ganz schön knifflig waren, z.B. einen Bahnreisenden pünktlich an sein Ziel zu bringen. Das ist gar nicht so leicht, wenn auf der Anzeigetafel die Information auftaucht „Der Zug fällt heute aufgrund einer technischen Störung aus.” Dann hieß es schnell eine neue Verbindung herzuzaubern, aber die musste ja auch in die Fahrpläne mit all ihren sonstigen Verspätungen passen. Es war eine Menge Arbeit gewesen und hatte all ihrer ganzen Umsicht bedurft, diesen Auftrag zu erfüllen, aber sie hatte es geschafft und war mächtig stolz gewesen.
Als sie heute in der Welt unterwegs war, hatte sie einer alten Frau, die traurig auf einer Bank im Park saß, einen Zettel zugeschoben, darauf stand: Sie haben drei Wünsche frei. Die Sache mit den drei Wünschen hatte sich bewährt, denn oft wünschten die Menschen so unsinnige Sachen, dass sie sich mit dem letzten Wunsch den ursprünglichen Zustand zurück wünschten. Da kann man als Fee einfach abwarten, die Hände in den Schoß legen und muss gar nicht aktiv werden.
Aber heute schien es sich auf die einfache Tour nicht zu erledigen, denn die alte Frau hatte auf dem Zettel notiert:
- Wunsch Gesundheit
- Wunsch Gesundheit
- Wunsch Gesundheit
Aufmerksam betrachtete die kleine Fee die alte Frau. Die Mediziner hatten dafür einen Begriff „Multimorbidität“, was hieß, man hatte es nicht nur mit einer Krankheit zu tun, sondern mit vielen. Das konnte man der alten Frau auch ansehen: ihr Rücken war merkwürdig verbogen, die Hände durch Arthritis verkrümmt und sehen konnte sie anscheinend auch nicht mehr, denn sie hatte sich auf eine Bank gesetzt, die übervoll mit Vogelschiss war.
Ratlos stand die kleine Fee da, wo sollte man da anfangen? Und während sie so dastand und auf eine Eingebung wartete, kam ein alter Mann des Wegs. Der sah nicht viel besser aus, war aber ganz vergnügt. Er lüftete den Hut und fragte: “Gnädige Frau, ist es gestattet, den Platz neben Ihnen einzunehmen?“ Die Frau war ganz verdattert und sagte nur „Ja“. Er zog ein Taschentuch heraus und wischte den Platz sauber – also sehen konnte er schon besser.
Er verwickele die alte Frau in ein Gespräch, ließ sich von ihr erzählen, was sie denn in ihrem Leben für Schönes erlebt hatte. Sie sprudelte los, berichtete von dem schönen Zusammenleben mit ihrem Mann, der ihr immer alle Wünsche von den Augen abgelesen hatte. Deswegen hat sie sich niemals an uns wenden müssen, dachte die kleine Fee. Weiter erzählte die Frau von den wunderbaren Reisen in die weite Welt, die sie unternommen hatten, und von den untadeligen Söhnen, die sich in New York und Sydney niedergelassen hatten.
Dann legte sich ein Schatten über ihr Gesicht und mit tieftrauriger Stimme sagte sie, und jetzt habe sie die Gesundheit, die sie ein Leben lang begleitet hatte, verlassen.
„Na ja“, sagte der alte Mann, „auch davon gibt es keinen unbegrenzten Vorrat. Die Kunst ist halt, mit den Verlusten und Einschränkungen bestmöglich umzugehen. Schauen Sie mich an, ich bin gesundheitlich nicht besser dran als Sie, aber ich lasse mir davon den Lebensmut nicht nehmen. Ich sorge dafür, immer in Kontakt mit lieben Menschen zu sein. Die vielen schönen Erlebnisse, die Sie mir erzählt haben, die haben mein Herz gewärmt und viele Erinnerungen wachgerufen, von denen ich Ihnen gerne berichten möchte“.
Die kleine Fee stand staunend auf ihrem Beobachtungsposten. Sie sah, wie sich die Gesichter zunehmend aufhellten, und verstand, dass der Wunsch nach Gesundheit unerfüllbar ist, aber die Gabe, mit den Einschränkungen bestmöglich zu leben, die sollte den Menschen geschenkt werden.
Eine tiefe Erkenntnis erfüllte sie und sie verstand, dass der Spruch „Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts“, ein dummer Spruch ist.