von Peter Schallock
Kleines Gedankenexperiment gefällig? Können Sie sich noch an die „Bezaubernde Jeannie“ erinnern? Den Flaschengeist, der als sympathische junge Frau im Vorabendprogramm auf der Mattscheibe ihre kleinen und großen Wunder vollbrachte? Lang, lang ist es her.
Haben Sie einen Moment Zeit? Dann lassen Sie uns ein wenig phantasieren: Wie wäre es, wenn Sie plötzlich Ihrer „Jeannie“ begegnen würden?
Stellen Sie sich also vor: Sie waren beim Discounter und haben sich Ihren Spirituosenvorrat für ein feucht-fröhliches Wochenende besorgt. Oder vielleicht in der schmucken Weinhandlung einen edlen Tropfen für den gepflegten Abendumtrunk. Jetzt, ermattet vom Shoppen, erlauben Sie sich eine Pause. Und warum nicht eins der neu erworbenen Fläschchen öffnen? Gesorgt, getan, der Flaschenöffner oder Korkenzieher verrichtet verlässlich seinen Dienst, die Flasche ist offen. Aber, oh Schreck, sie ist leer. Oder fast jedenfalls, genauer gesagt, es ist nichts Flüssiges drin. Dafür spricht eine Stimme zu Ihnen, beispielsweise so:
„Höchste Zeit, jetzt stecke ich schon eine Ewigkeit in dieser Flasche und brauche dringend frische Luft! Lass‘ mich raus, und ich erfülle ich Dir einen Wunsch!“
Schon ist der Geist aus der Flasche entwichen, drückt Ihnen noch schnell eine Gebrauchsanweisung in die Hand und ist, schwuppdiwupp, einfach verschwunden.
Jetzt sitzen Sie da, völlig verdutzt, mit Ihrer leeren Flasche und verstehen gar nicht so richtig, was passiert ist. Gut, Sie sammeln sich, erinnern sich des Papiers in Ihrer Hand und fangen an zu lesen.
Der Geist, der es gut mit Ihnen meint. Und Sie vielleicht ratlos macht.
Damit die Kirche schön im Dorf bleibt, hat Ihnen der Flaschengeist bei der Erfüllung Ihres Wunsches ein paar Grenzen gesetzt. Ausgeschlossen sind Mogelpackungen („Ich wünsche mir, dass sich ab jetzt alle meine Wünsche erfüllen!“), XXL-Versionen („Ich wünsche mir eine perfekte Welt“). Vergangenes kann nicht mehr rückgängig gemacht werden, und weil der Geist es gut mit Ihnen meint, hat er eine Obergrenze gesetzt, sollten Sie sich doch nur für den schnöden Mammon entscheiden – Geld verdirbt bekanntlich den Charakter. Sie müssen sich aber innerhalb der nächsten zwei Tage für einen ganz konkreten Wunsch entscheiden, der, so steht da, unmittelbar erfüllt wird. Danach ist die ganze Geschichte abgelaufen. Sie können sich also nicht wünschen, an Ihrem hundertsten Geburtstag in ein paar Jahrzehnten so hübsch, gesund und fidel wie ein(e) Zwanzigjährige(r) zu sein.
Vielleicht ahnen Sie schon, wie es weitergeht. Stecken Sie in einer existentiellen Notlage oder haben ernsthafte gesundheitliche Probleme? Gibt es Ihnen nahestehende Menschen, die sich in einer schwierigen Situation befinden? Dann dürfte Ihnen die Wahl des Wunsches kein Problem bereiten. Da können Sie sich fast schon glücklich schätzen, dass es Ihnen (oder Ihren Nächsten) so schlecht ging – was ja in Kürze endgültig vorbei sein wird.
Bloß nicht falsch entscheiden !
Ist dem jedoch nicht so, wird es schwierig. So eine Chance kommt garantiert nicht wieder, da heißt es, ordentlich nachzudenken und seinen „freien Wunsch“ sorgfältig auszuwählen. Natürlich scheiden zunächst schon mal alle jene Wünsche aus, die Sie sich selbst, also auch „geistlos“, erfüllen können. Also, was tun? Welche wunderbaren Möglichkeiten Sie doch haben!
Sich wünschen, dass die seit geraumer Zeit auftretenden Wehwehchen, die sich zu einer handfesten Krankheit auswachsen könnten, wieder verschwinden? Ach was, so schlimm sind die doch nicht!
Sollten Sie alleinstehend sein, wie wäre es, wenn endlich der/ die Richtige bei Ihnen anklopft? Schließlich haben Sie lange genug alleine gelebt. Aber eigentlich sind Sie doch mit Ihrem Dasein als Single ganz zufrieden. Und überhaupt: Lässt sich nicht laufend irgendwo irgendjemand scheiden?
Etwa doch den schnöden Mammon wählen? Und was machen Sie damit? Bringen es zur Bank, damit die Inflation es nach und nach auffrisst? Damit die Bank Sie ständig mit großartigen Anlagemöglichkeiten nervt? Und wenn die lieben Verwandten von Ihrem neuen Reichtum erfahren – man kann sich ja mal verplappern – pumpen die Sie vielleicht auch noch an?
Und das Geld einfach so spenden? Wer macht das schon? Nur die, die anschließend noch mehr als genug übrig haben.
Wie wäre es mit einer schicken neuen Wohnung im besseren Stadtviertel? Bloß nicht, da wohnen doch nur Snobs und Neureiche. Und schön teuer vermieten geht auch nicht, mit Mietern hat man bekanntlich ständig Ärger!
Oder eine Ferienvilla im liebgewordenen Urlaubsdomizil? Und wer kümmert sich darum, wenn Sie nicht dort sind? Sie können doch nicht ständig nach Sylt oder an die Côte d‘Azur jetten.
Besser noch, für geraume Zeit auf Weltreise zu gehen? Aber: Ewig unterwegs sein? Mit Leuten, die man nicht kennt, Monate auf einem Kreuzfahrtschiff zusammen sein müssen?
Vielleicht aber wollen Sie lieber Ihren Liebsten was Gutes tun: Schließlich haben die ihre Leben noch vor sich und bereits jetzt jede Menge Verantwortung! Klingt gut! Andererseits: Man hat doch sein Leben lang geschuftet, da könnte man sich jetzt endlich selbst mal was gönnen!
Zu dumm aber auch, dass es nur ein Wunsch sein kann! Ich nehme an, Sie werden die nächsten zwei Tage nicht zur Ruhe kommen. Noch dazu sitzt Ihnen die Zeit im Nacken! Denn, das ist nun mal die Krux, man könnte sich ja falsch entscheiden. Wahrscheinlich hat sich längst der ewige Pessimist in Ihnen gemeldet, und der Kopf qualmt Ihnen gehörig. Die Chance, dass Sie sich eines Tages über eine falsche Entscheidung grämen, ist gar nicht so klein. Vielleicht verfluchen Sie irgendwann sogar den Moment, in dem Sie die verdammte Flasche geöffnet haben. Weil danach irgendwas, auf das Sie gerne verzichtet hätten, eintrat. Wer weiß das schon.
Wie bitte, Sie sind sicher, dass Ihnen das nicht passieren kann? Dass Sie sofort wüssten, was Sie mit dem ungewöhnlichen Geschenk anfangen würden? Da kann ich nur sagen: Hut ab, ich beneide Sie.
Hilfe tut not
Sie sehen schon: Die perfekte Lösung ist nicht in Sicht. Das „Wünschen“ kann manchmal eine höchst komplexe Angelegenheit sein. Seit Langem befassen sich Experten mit der Frage, warum wir uns überhaupt etwas „wünschen“. Hilfe tut not und ist willkommen, aber wo auf die Schnelle finden?
Das Orakel von Delphi ist lange in Rente, aber man kann sich ja an seinen Nachfolger wenden. Der heißt „Internet“ und kommt digital direkt in die heimische Stube. Experten, die wirklich alles besser wissen, gibt es dort massenhaft.
Belassen wir es bei ein paar wenigen Erkenntnissen, zu mehr fehlt sowieso die Zeit. Sigmund Freud meinte, unbewusste Kräfte wären am Werk, wenn man sich was wünscht. Dumm nur: Damit Sie Ihre unbekannte Triebstruktur auch nur annähernd verstehen, müssen Sie wohl erst ein paar Jahre auf die Couch.
Keiner mit ähnlichen Erfahrungen? Doch, es gab mal einen, der entschied sich für den Mammon, genauer gesagt für „Gold“. Soll ja eine sichere Anlageform sein. Alles, was er berührte, verwandelte sich schnurstracks in das Edelmetall. War aber wohl doch nicht so klug: Man stelle sich vor, das geliebte Wiener Schnitzel auf Ihrem Teller verwandelt sich in pures Gold! Herr Midas, so hieß er angeblich, machte dann ja auch von seinem Umtauschrecht Gebrauch, das er glücklicherweise hatte. Als Vorbild ist DER nicht zu gebrauchen.
Philosophen sind klug – einer zumindest ist ständig in irgendwelchen Talk-Shows zu Gast und weiß immer alles. Einer seiner Vorgänger, ein Herr Epikur, befasste sich ausführlich mit menschlichen Wünschen und unterteilte sie in drei Kategorien. „Allumfassende Macht“ und „Lebensnotwendiges“ scheiden aus, passend wäre also die dritte Kategorie: Den Lebensumständen zuträglich!
Zuträglich also, wie interessant! Hilft Ihnen das jetzt bei Ihrer Entscheidung?
Gut, lassen wir Gnade walten, genug der Phantastereien, Kommen wir zum Ende. Momente, in denen ein wunscherfüllender Geist tatsächlich aus der Flasche schlüpft, sind doch eher selten. Davon abgesehen: Verlieren Wünsche, die sich praktisch im Vorbeigehen erfüllen lassen, nicht auch irgendwie an Wert, werden banal? „Zack, jetzt wünsche ich mir ein dickes Auto!“, und schon steht die Karre vor der Tür? Manche Wünsche werden immer nur Träume bleiben, das ist halt so. Manchmal ist das vielleicht sogar besser.
„Besser wünschen“ ohne Geist?
Es gibt ganz besondere Wünsche, die einen besonderen Wert für uns haben, gerade weil wir für deren Erfüllung Mühe, Anstrengung oder Kosten nicht scheuen. Manche Leute nennen sie Herzenswünsche. Beispiel gefällig?
Februar 2023: Ich weile eine Woche auf der wunderschönen Insel Madeira. Das Hotel, in dem ich wohne – gute Mittelklasse mit sehr viel Tradition – hat alle Hotelgäste zum „Direktionsdrink“ eingeladen. Ein ziemlich hochtrabender Begriff für ein kleines Gläschen Sekt und ein paar Oliven auf einer Untertasse. Im Hotel gibt es viele britische Touristen, und so komme ich mit einer älteren englischen Dame ins Gespräch. Sie lehnt am Nebentisch, wirkt schon ein wenig wackelig und sieht tatsächlich so aus wie eine jener bejahrten Darstellerinnen in einem Inspektor-Barnaby-Krimi.
„Es war mein großer Wunsch, noch mal hierher zurückzukehren. Hier verlebten mein Bertie und ich unsere Flitterwochen, hatten, als Jungvermählte, die vielleicht schönste Zeit unseres Lebens!“ Strahlend berichtet mir die englische Lady von der Zeit mit ihrem Liebsten, der vor Jahren von ihr gegangenen sei und den sie noch immer sehr vermisse. Diese vermutlich letzte Reise sei ihr eine Herzensangelegenheit gewesen, ihr letzter großer Wunsch.
Da ist er, der Herzenswunsch. Dessen Erfüllung für die freundliche englische Lady ein vielleicht letzter Höhepunkt ihres langen Lebens bedeutete.
Manchmal ist das Leben eben doch ein Wunschkonzert, zumindest ein kleines.
Und das auch ohne Flaschengeist.