Wenn meine Mutter erzählt…

von Beate Seelinger

Wenn meine Mutter erzählt, berichtet sie oft und gerne – sehr oft, so dass es gelegentlich meine Nerven strapaziert – über Verwandtschaftsverhältnisse von Menschen „ihrer“ Zeit, von dem Körbers Franz, der der Sohn des Körbers Willi war, der wiederum ein Neffe der Grimme Lina gewesen ist, der Schwiegermutter der Königs Sophie, die die Schwägerin des Wirtschaftschreiners war, der sich selbständig gemacht und dann alles Geld versoffen hat  … … … . Wer kennt das nicht, die Erinnerungen betagter Verwandter, die einen an der eigenen Fähigkeit, Verwandtschaftsbeziehungen nachzuvollziehen, verzweifeln lassen? „Oh, Mama, Du nervst!“, entfährt es mir manchmal – obwohl ich weiß, dass es ein Vergehen ist – in Situationen, in denen ich selbst gestresst bin und mir die Erwähnungen von Personen und deren Verwandtschaften, die ich nie gekannt habe, als zusätzlicher, überflüssiger Ballast vorkommen. Interessant und aktuell wird es allerdings, wenn meine Mutter über die Nachhaltigkeitsbestrebungen ihrer Zeit erzählt. Sie weiß eigentlich nicht, dass sie über die heutzutage allseits gepriesene und geforderte „Nachhaltigkeit“ spricht. „Wir waren eben noch sparsam“, beschreibt sie ihre Darstellungen mit dem ihr eigenen, leicht vorwurfsvollen Unterton. Ja, sie waren sparsam damals, das muss man sagen. Und nachhaltig in ihren Lebensgewohnheiten.

Am meisten beeindruckt mich immer wieder, wenn meine Mutter erzählt, dass sie damals eigentlich gar keinen Müll hatten. Sie hatten auch keine Müllabfuhr in dem Sinne. Alle vierzehn Tage kam ein Fuhrwerk, das in ein paar Fässern das abholte, was man so ganz und gar nicht loswerden konnte. Jedoch das war nicht viel. Alles, fast alles, wurde weiter- und wiederverwertet. DSD-Müll, also Plastik und Folie, gab es natürlich überhaupt nicht. Man kannte keine eingeschweißte Wurst und formgetreuen Verpackungen. Kaufte man Lebensmittel wie Zucker und Salz, wurden sie mit einem Maß in braune Papier-Spitztüten abgefüllt, und Wurst und Käse wurden abgewogen und in Pergamentpapier gewickelt. Andere Dinge für den Haushalt kaufte man einfach so, wie sie waren – unverpackt. Eier lieferten die eigenen Hühner, Fleisch die beiden eigenen Schweine. Die Familie meiner Mutter machte damit keine Ausnahme, denn man lebte auf dem Land und hatte so etwas. Die eine Kuh, die man fütterte, lieferte Milch und Butter und Rahm, und mancher hatte noch für Weihnachten oder Ostern ein Ziegenböckchen oder ein Lämmchen oder ein Kaninchen. Fisch fischte der Fischers Franz aus dem Neckar und tauschte ihn gegen zwei Kilo Äpfel oder ein paar Salatköpfe bei der Mutter meiner Mutter ein. Dies gab es natürlich in erster Linie für die Landbevölkerung, aber auch in den Städten des Reviers, zum Beispiel hatte so manch einer ein paar Hühner im Hinterhof und einen Kaninchenstall. Und auch da kaufte man anders. Ich selbst erinnere mich noch gut daran (schon mehr städtisch aufgewachsen), dass ich zum Milchholen mit der zerbeulten Blechkanne zum Bauern außerhalb ging, und die Nachbarsfrau unsere Eier, jeweils zu Fünfen, in längliche Gebilde aus Zeitungspapier verpackte. Zum Eisholen am Sonntag wurde ich mit einer Glasschüssel zum Bäcker geschickt, der die drei Sorten, die es gab – Vanille, Schokolade und Erdbeer – direkt aus der Eismaschine in das Gefäß löffelte. Auch Öl und Essig kaufte man – nicht in meiner Kindheit, aber in der meiner Mutter – in Glasflaschen, die man mitbrachte, und in die im Geschäft die wertvollen Flüssigkeiten mittels Trichter eingefüllt wurden. Und Zeitungen – überhaupt – Zeitungen! Wahre Nachhaltigkeitswunder! Nicht nur der Abonnent las sie, die Nachbarin und der berentete Kollege kamen vorbei, um einmal einen Blick hineinzuwerfen, und danach wurden sie an die, die sie sich nicht leisten konnten, weitergegeben. Im Winter legte man mehrere Bögen aufeinander, stellte seinen Fuß darauf und malte ihn ab, schnitt das Ganze aus und legte die „Zeitungsfüße“ als wärmende Sohle in die ewig nassen Schuhe. In den kalten Nächten wickelte man Briketts in feuchtes Zeitungspapier und ließ sie im Ofen verglimmen. So blieben die Räume „überschlagen“, wie man das nannte. Die nicht bedruckten Ränder der Seiten konnten meine Mutter und ihre Schulkameraden schön abschneiden und darauf hundert Mal schreiben „Ich darf nicht den Rechenunterricht schwänzen“, wenn man dies als Strafarbeit aufgebrummt bekommen hatte. So schlug man zwei Fliegen mit einer Klappe: man sparte wertvolle Heftseiten (denn es war ja Krieg und es gab kein Papier), und man konnte dem Lehrer noch eins auswischen. Zeitungspapier wurde auch in handliche Blätter geschnitten, auf einen Fleischerhaken aufgespießt und am stillen Örtchen zur geneigten Benutzung aufgehängt. Schön war das nicht – ich habe es selbst viel später auf  Almen in Österreich ausprobiert – aber nachhaltig war es. Zeitungspapier wurde auch zum Herdanzünden gebraucht und – wie bei mir auch heute noch – zum Fensterputzen. Und den Herd in der Küche – wer hatte schon Elektro – brauchte man dringend, auch im Sommer. Mit ihm wurde gekocht und gebacken, verwertet und – geheizt. In ihm konnte man alles Mögliche verbrennen. Auch Kartoffelschalen, die putzten den Kamin. So vermied man Abfall. Und was das Heizen anging: man hielt sich eben nur in der Küche und bestenfalls im angrenzenden Raum auf, im Wohnzimmer wurde nur an Weihnachten gestochert. Richtig gemütlich wurde es dann zwar auch nicht, aber man trug eben mehrere Schichten aus Wolle am Körper. Ja, man trug Wolle und es wurde viel gestrickt und gehäkelt. Und fehlte es an Garn, was das Übliche war, wurde ein alter Pullover aufgezogen, die Fäden wurden gewaschen, gespannt und neu aufgewickelt, und aus dem vormaligen Pullover entstanden Socken, Handschuhe oder ein Schal. Ich trug viel Meliertes in meiner Kindheit und habe die Kleidungsstücke gehasst. Sie sahen aus, als habe man sich für keine Farbe richtig entscheiden können. Das Garn reichte nicht für das angestrebte Teil, oder es war zu dünn, also wurde es mit einer zweiten Farbe zusammen verstrickt. Schön war das nicht, aber es war nachhaltig. Kleider, Hosen, Hemden und Röcke trug man bis zur Erschöpfung des Materials. Wurden sie zu kurz oder morsch, wurde ein Streifen angesetzt. Meine Mutter hat noch heute ein Stückchen Nähnadel im Knie, das da hineinkam, als sie wutentbrannt aus der Nähstube der Schneiderin rannte, weil ihr wieder einmal eine Bahn Stoff an ihren Rock angenäht worden war. Die Nadel drang beim Rennen in die Kniekehle ein, brach ab und setzte sich in Bewegung. Heute, achtzig Jahre danach, ist das Metallstückchen verknorpelt und macht keine Schwierigkeiten mehr. Aber zunächst handelte es sich um eine heikle Verletzung. Schön war das nicht.

Überhaupt: es wurde noch genäht. Am Anfang des Winters kam das kleine Ännchen ins Haus, ein zierliches, verwitwetes Frauchen, das die Betttücher, Tischwäsche und Handtücher flickte. Flicken war eine Kunst. Ännchen bekam neben ihrem Lohn ein Glas Wein und zwei Hefebrötchen vorgesetzt, und dann setzte sie Stoffstücke ein, da, wo das Leinen zu dünn geworden war, oder sie schuf aus nicht zu reparierenden Laken Geschirrhandtücher und Taschentücher. Noch mein Vater profitierte von dieser Gepflogenheit, als meine Mutter die Tradition fortsetzte und ihm Taschentücher aus alten Bettlaken nähte, weil die Flusen der Tempos seinen Schleimhäuten schadeten. Er hatte stapelweise Taschentücher aus Betttüchern und nur, wenn er ausging, steckte er sich ein gekauftes in die Hosentasche.

Mit der bewundernswerten Müllvermeidung habe ich oben begonnen. Es gab keinen DSD-Müll, es gab keinen Papiermüll, es gab wenig Restmüll in der Zeit meiner Mutter. Alles wurde aufgehoben für spätere Wiederverwertung. Und da zeigten sich die Leute erfinderisch. Schnürsenkel aus Kordel, Skier aus Fassdauben, Dünger aus Asche – ja sogar als Rutschbremse auf Schnee und Eis – Salz statt Zahnpasta, Schulranzen aus Pappkarton, Einmachringe statt Hüfthalter – Fantasie war alles. Auch der Biomüll gestaltete sich überschaubar. Küchenabfälle wurden an die Schweine und Hühner weitergereicht oder kompostiert. Selbst Spätzle-Wasser, also das Wasser, in dem die Teigwaren gegart worden waren, konnte man den Säuen anbieten. Meine Mutter erzählt, dass die Tiere fast den Stall auseinandernahmen, wenn sie es nur von Weitem erschnüffelten. Heute würde man einen Umweltpreis dafür bekommen, würde man in einem der einschlägigen grünen Blätter davon berichten, dass man Spätzle-Wasser wiederverwertete! Damals war das gang und gäbe. Nichts wurde vergeudet, alles war wertvoll.

Man könnte noch Seiten füllen darüber, wie sparsam, erfinderisch, fantasievoll, verantwortungsvoll, ja, nachhaltig man in der Zeit meiner Mutter lebte. Die Umstände, der Krieg, erforderten es, jedoch vieles hatte man auch von den Vorfahren übernommen. Man ging mit allem sorgsamer um früher, das steckte in den Menschen drin. Der Begriff „Wegwerfgesellschaft“ wurde erst viel später erfunden. Meine Generation gehört schon zu denen jener Zeit. Wir sind so viel bequemer und einfallsloser geworden. Es gibt ja alles, warum also selbst erfinden? Wir alle wissen es inzwischen: Wir zahlen einen hohen Preis für unser verlorenes Verantwortungsgefühl und unsere Fantasielosigkeit. Niemand wünscht sich zurück, dass die ganze Familie einmal pro Woche im immer gleichen Badewasser badet. Niemand will Frauen in einer dampfenden Waschküche stehen sehen. Niemand will im Winter Eisblumen von den Fenstern hauchen. Aber das müssen wir auch nicht. Wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Wir müssten jedoch unsere Geisteshaltung ändern – da nehme ich mich nicht aus – und wieder alles für wertvoll erachten, das Geschenk in allem sehen. Und die Einzigartigkeit vieler Dinge erkennen. Und Dingen, die nicht einzigartig sind, weniger Beachtung schenken. Ich habe kürzlich ein Verkaufslager ausfindig gemacht, in dem Kunsthandwerk und Handwerk aus vielen Ländern der Welt angeboten wird. Wie wahrhaft einzigartig schön sind diese Gegenstände! Nicht immer perfekt, lassen sie die Handarbeit erkennen. Aber um wie viel individueller und charmanter sind sie! Sie haben Charakter. Die Waren werden bei den Handwerkern vor Ort eingekauft, also auch noch fair gehandelt, so dass sogar die Preise stimmen. Für beide, Handwerker und Käufer. In diesem Lager zu kaufen und zu stöbern, wird zum Abenteuer und man trägt wahrlich Schätze heim. Man kauft nachhaltig und noch dazu schön. Man erlebt die Individualität der Dinge aufs Neue. Immer und für alles gilt das freilich nicht. Ein Kochtopf ist ein Kochtopf und ein Schrubber ist ein Schrubber. Diese sind und bleiben industriell gefertigte Waren heutzutage. Es gibt Unterschiede in Qualität und Form, aber sie sind natürlich nicht einzigartig und brauchen es auch nicht zu sein. Aber brauchen wir die Vielzahl ihrer Art im Angebot? Brauchen wir zwölf Sorten Salami und acht Sorten Pommes Frites? Reichen nicht drei gute Sorten? Müssen wir die Dinge, die uns umgeben, ständig erneuern, um auf der Höhe der Zeit zu sein? Es gibt Dinge, die zeitlos sind, und auf die könnte man sich konzentrieren.

Allerdings, mir scheint, die Wende ist unweigerlich und unvermeidlich eingeläutet. Die momentane Krisensituation aufgrund von Pandemie und Ukraine-Krieg zwingt uns, weiter umzudenken und unser Verhalten zu ändern. Energie ist knapp, die Regale werden leerer, Lieferausfälle kennen wir wieder, seit Corona über uns hereinbrach. Wir werden dahin gezwungen, wohin wir müssen. So hat die Krise ihre guten Seiten, und sollten wir sie relativ schadlos überstehen, könnte sie unsere und der Welt Chance werden. Vielleicht brauchen wir dann den Begriff „Nachhaltigkeit“ gar nicht mehr, dieses Kunstwort, das schon auf die erzwungene und verkrampfte Haltung hinweist. Vielleicht werden wir dann wieder verantwortungsvoll und erfinderisch sein, wie die vorangegangenen Generationen – einfach so, weil es normal und natürlich ist.

Oder schreibe ich gerade an einer Utopie…?