von Beate Seelinger
Durchs geschlossene Fenster hörte man es nebenan krachen und scheppern. Es klang nach brechendem und splitterndem Holz, nach vibrierendem Blech und dem dumpfen Aufprall von größeren, polternden Steinen. Da wusste ich: Die Sperrmüllabfuhr stand bevor!
Was da krachte und schepperte, war der Bauschutt unserer DIY-Nachbarn, genauer gesagt, Dschingis Khans, wie wir den jungen Hausherrn nebenan auch insgeheim nannten. Dschingis Khan – wegen seines geflochtenen Zöpfchens auf dem Ober-Kopf und seines über und über mit asiatischen Drachen tätowierten Körpers, den man im Sommer sehen konnte, wenn er mit freier Brust nassen Beton schippte oder Sand in seiner Schubkarre umherfuhr. Nicht, dass wir in einem Neubaugebiet wohnten; die Nachbarschaft setzte sich aus Siebziger-Jahre Mittelstands-Anwesen und weitgehend gepflegten und zugewachsenen Gärten zusammen. Dschingis Khan allerdings hatte das Haus neben uns erst vor Kurzem käuflich erworben, nachdem der Besitzer verzogen war, und modelte es nun im Do-It-Yourself-Verfahren seinen Vorstellungen gemäß um. Seine Sippschaft aus Nordrhein-Westfalen kam regelmäßig an Wochenenden angereist, und dann legten sie los. Man konnte sehen, dass sie das nicht zum ersten Mal machten, Profis waren sie. Wo die hinlangten, war alles hieb- und stichfest. Und Gras wuchs da auch nicht mehr.
Entgegen seinem verwegenen Äußeren war Dschingis Khan ganz umgänglich. Jedoch auch unverblümt pragmatisch. So wurde der dem Sperrmüll zugedachte Bauschutt nicht umständlich aus dem Haus getragen und auf einen ordentlichen Haufen aufgeschichtet, sondern gleich im hohen Bogen vom Balkon im ersten Stockwerk an den unteren Grundstücksrand verfrachtet. Dort gab es einen nur von Anliegern befahrenen Weg, so dass die Gefahr von Kollisionen des Bauabfalls mit vorbeifahrenden Autos überschaubar blieb. Das alles trug sich nicht gerade geräuscharm zu, war aber praktisch. Und für die Nachbarn verlässlich: die Sperrmüllabfuhr war im Anmarsch.
In der Nachbarschaft begann nun ein reges Treiben. Auch die anderen erinnerten sich an dies und das, welches sie schon lange geplant hatten, los zu werden. Jeder entwickelte dabei seinen höchst individuellen Stil, wie er dies bewerkstelligen wollte. Die betagtere Familie auf der rechten Seite brachte ihren Müll besonnen und leise auf das Trottoir an der Durchgangsstraße oben. Sorgfältig schichteten Sohn, Mutter und Schwiegertochter alte Gerätschaften und in die Jahre gekommene Kleinmöbel auf und räumten alles peinlich genau zusammen, so dass es so wenig Platz wie möglich einnahm. Der Lampenschirm wurde über den Vogelkäfig gestülpt, die Malerplane deckte beschämt den durchgesessenen Zweisitzer ab. Der geordnete Hügel wurde gewissenhaft auf Unregelmäßigkeiten überprüft, bevor man sich nach abermals prüfenden Blicken ins Haus zurückbegab. Man wollte den Nachbarn ja keine Unordnung zumuten, und so gestaltete sich die Sperrmüllabgabe hier zu einer mittleren Herausforderung an Nachbarspflicht und Ordnungsliebe – die jedoch mit Bravour gemeistert wurde.
Die Großfamilie mit den vielen Kindern gegenüber ging die Sache wieder anders an. Alle halfen mit. Vom kleinsten Sprössling bis hin zur Oma schleppten alle Familienmitglieder vom Kaufladen bis hin zum ergonomischen Schreibtischstuhl Unmengen von an sich noch sehr gut brauchbarem „Müll“ vor die Tür. Jeder stellte seinen Beitrag irgendwohin an die leicht abschüssige Straße, und die gesamte Komposition musste dem interessierten Betrachter etwas gewagt erscheinen. Am Saum des Vorgartens der feinen Villa fand sich nach kürzester Zeit die weitaus größte Ansammlung der verschiedensten Dinge vor, und wiederum – wie jedes Mal – versteckte sich unter dem gesammelten Krempel auch irgendein elektronisches Gerät. Das würde zurückbleiben, das war jetzt schon klar. Elektroschrott war beim Sperrmüll nicht zugelassen. Jedoch, es war jedes halbe Jahr dasselbe: ein Fernseher, ein Bildschirm, eine Tastatur fanden sich immer zwischen den großzügig über den Bürgersteig verteilten Objekten. Und wie jedes halbe Jahr würden die Müllmänner dies, wie alles, was Kabel an sich hatte, stehen lassen.
Unterhalb gab es auch noch Nachbarn. Deren Haus war in der Tat erst vor Kurzem gebaut worden, und auch dabei hatte sich eine große Menge an Sperrmüll angesammelt. Das sportive Ehepaar nutzte die Gelegenheit zu einem Workout im kleidsamen Jogging-Outfit und hatte einen riesigen Berg Krams innerhalb von Minuten, wie es schien, angehäuft. Auf dem noch nicht angelegten Baugelände fiel dieser jedoch gar nicht als Sperrmüll auf, es hätte sich genauso gut um Anteile der Baustelle handeln können. Deswegen wäre es weiß Gott nicht nötig gewesen, das Ganze mit einer riesigen Plane abzudecken, denn alle ringsum hatten sich mittlerweile so und so an den unaufgeräumten Anblick der Dauerbaustelle gewöhnt. Ein Hügel Sperrmüll hätte da das Bild ganz gewiss nicht gestört. Die jungen Leute fanden aber offenbar Spaß an den Dehnübungen, die notwendig wurden, um die Plane zuletzt über den kompletten Haufen zu breiten, und ganz offensichtlich betrachteten sie im weitesten Sinne das Ganze als ertüchtigendes, sportliches Event.
Etwas verlegen legte ich den verbogenen Sonnenschirm vor den Gartenzaun. Das war alles, was wir diesmal an Sperrmüll hatten. Ich kam mir vor wie ein Verräter. Weder musste ich mir Arbeit noch einen bestimmten Plan der Anordnung machen. Nur ein Sonnenschirm. Ich dachte mir, dass er bestimmt übersehen werden würde, und ärgerte mich schon jetzt, dass er dann wieder ein halbes Jahr lang im Weg herumstehen würde. Etwas verstimmt begab ich mich ins Haus zurück.
Langsam brach der frühe Abend herein. Alle Anwohner hatten sich wieder zurückgezogen, und vor den Häusern warteten die Anhäufungen von Gerümpel auf ihre Bestimmung. Jedoch zunächst einmal auf eine andere als die der Verfrachtung in den Müllwagen. Nun sollte erst einmal, wie auf Kommando, der Verkehr in unserer Straße bemerkenswert zunehmen. Eine auffallende Anzahl von Kleintransportern rollte im Schneckentempo sehr nah an den Bordsteinen vorbei. Und das ist der Punkt, an dem die Geschichte zu einer über Nachhaltigkeit wird.
Immer wieder an Sperrmülltagen, wenn gegen Abend alle alles, was sie abgeben wollten, vor die Häuser geräumt hatten, krochen die Lieferwagen mit osteuropäischen Nummernschildern die Straßen in unserer Kleinstadt entlang. Mit einem Auge auf der Fahrbahn, dem anderen auf den Müllhaufen checkten die Fahrer ihre Chance. Sie suchten Brauchbares. Und sie fanden Brauchbares. Der geordnete Hügel rechts neben unserem Grundstück ward schnell auseinander genommen, und Vogelkäfig und Lampenschirm fanden sich unversehens auf der Ladefläche eines weißen Transits wieder. Schon eine halbe Stunde nach Aufbau hatte sich der ausladende Haufen der wohlhabenden Großfamilie gegenüber auf die Hälfte reduziert. Man konnte davon ausgehen, dass dort – das sagte die Erfahrung – bis zum Morgen neunundneunzig Prozent aller abgestellten Dinge verschwunden sein würden. Es fanden sich da allerdings auch die wundervollsten Schätze in dieser Akkumulation von Übrigem! Mit Abstand die unversehrtesten und ansprechendsten Gegenstände konnten die Sperrmüllsammler unter den dort aussortierten Dingen erbeuten. Am Fenster oben erspähte ich einmal die Kinder der Familie mit großen Augen, in denen unübersehbares Mitgefühl lag, als sie beobachteten, wie ein kleiner Junge aus einem der Transporter sich eines der weggegebenen Spielzeuge zu eigen machte. Eine pädagogisch recht sinnvolle Erfahrung, wenn von den Eltern adäquat vermittelt – ganz nebenbei bemerkt. Mit etwas Glück konnte man auf diesem Wege auch noch den Elektroschrott loswerden. Das klappte nicht immer, aber die Chance bestand. Der Sperrmüll dieser Familie erwies sich als Fundgrube für die findigen Plünderer, und das hatte auch ich mir schon öfter gedacht, wenn ich in Versuchung gekommen war, mich nach Einbruch der Dunkelheit einmal an die Überbleibsel heranzuschleichen. Meist war jedoch nach Einbruch der Dunkelheit nichts mehr übrig von den verführerischen Resten, und am helllichten Tag – dazu wäre ich dann doch ein bisschen zu feige gewesen.
Bei Dschingis Khan gab es für die Sperrmüllsammler nichts zu holen außer ein paar Brettern und Blechen. Jedoch, man staune, auch Bretter und Bleche waren gefragt. Die große Plane der beiden Sportsfreunde fiel im Laufe des Abends mehr und mehr in sich zusammen, blieb jedoch im Wesentlichen liegen. Die Schatzsucher lupften sie, griffen sich die Beute und deckten die Hinterlassenschaften wieder ordentlich zu. Unser Sonnenschirm sollte den nächsten Morgen auch nicht mehr vom Trottoir aus erleben. Auch hinter ihm hatte sich die Ladeklappe eines Transporters geschlossen. Ich staunte. Dies alte Ding! Und ich fragte mich, was daraus wohl werden würde.
Am nächsten Morgen blieb für die Sperrmüllwerker wenig Arbeit in unserer Straße. Die osteuropäischen Kleintransporter hatten ganze Sache gemacht. Nur hier und da noch ein bisschen Abfall, ganz ohne Wert und Zweck. Für mich war, als ich vor einigen Jahren in unsere Straße gezogen war, die Karawane der Transporter etwas Neues. Ich kam aus der Stadt, und bei uns hatte man das nicht gekannt. Einzelne Individualisten hatten gelegentlich in den Sperrmüllansammlungen gestöbert, das hatte ich schon hin und wieder beobachtet, jedoch professionelles Sperrmüllplündern hatte es noch nicht gegeben. Allerdings besitze auch ich selbst noch heute einen schmucken Buchenholz-Küchenstuhl, den ich vor der Presse gerettet habe, und der mit ein paar Schrauben und einem flotten Kissen darauf wieder stabil und attraktiv geworden ist. Einmal hatte ich auch aus meinen eigenen Beständen zwei spanische gedrechselte Stühle vor die Tür gestellt – wunderschön gearbeitet. Ich hatte sie als Geschenk aus einer früheren, zeitlich begrenzten Freundschaft übrig behalten. Die Freundin selbst hatte sich als nicht so gut wie ihr Geschmack erwiesen, so dass ich keine Lust mehr auf den Anblick dieser Reminiszenzen hatte. Mein Nachbar, ein recht bekannter Musiker, hatte sie sich umgehend gekrallt. Er freute sich und ich freute mich, dass er sich freute. Die Freundin war ich los. Die Stühle auch. Jedoch einen netten nachbarschaftlichen Kontakt hatte ich gewonnen.
Aber was war das alles gegen die Funde im und Erfahrungen mit Sperrmüll, die meine Jugendfreundin gemacht hat! Diese hat in jungen Jahren als ambulante Krankenschwester gearbeitet. Ihr Revier umfasste das vornehmste Viertel der Stadt, wo sie üblicherweise in aller Frühe unterwegs war. An Sperrmülltagen, noch bevor die Wagen auf Tour gingen. Dann war es an ihr gewesen, mit einem Auge auf den Gehwegen, durch die Straßen des Stadtteils zu fahren. Und was brachte sie da oft heim! Antiquitäten und Schmuckstücke in der Tat. Die Krönung war einmal ein Biedermeiersofa gewesen, mit geschwungener Rückenlehne und Messing-Löwenköpfen an der Frontseite der gepolsterten Armlehnen. Man hatte meine Freundin schon immer kreativ begabt nennen können, und so wurde dann auch ein fantastischer Mille-Fleurs-Bezugsstoff erworben, zwei Schachteln Sattlernägel und qualitativ hochwertige Möbelpolitur, womit sie im Handumdrehen das verkannte Möbel zum Prachtstück und Blickfang für ihr Wohnzimmer aufarbeitete. Jeder bestaunte dieses Sofa und das zu Recht. Und sie, Susanne, hat mich gelehrt, an Sperrmülltagen verstohlen den Bürgersteig im Auge zu halten. Eigentlich habe ich ja alles, was ich brauche, jedoch es könnte ja einmal ein Schätzchen dabei sein. Genauso wie auf dem Flohmarkt. Aber das ist wieder eine andere Geschichte über Nachhaltigkeit…