Schreiben – Memoiren einer junggebliebenen Oma

von Cornelia Kutter

An meinem sechsten Geburtstag – ich ging noch nicht zur Schule, konnte aber schon etwas lesen – erhielt ich eine Glückwunschkarte von meiner Oma. Sie wohnte in einer anderen Stadt und wollte mich damit erfreuen. Meine Freude endete aber jäh, als ich die Schrift sah.

Sütterlin, was ist das denn?
Meine Eltern erklärten mir, dass meine Oma die deutsche Sütterlin-Schrift verwendet, die vor Einführung der lateinischen Buchstaben in Schulen üblich war. Sogleich bat ich um eine Auflistung der deutschen Schriftzeichen, um diese Schrift zu erlernen. Aber auch das hat nicht geholfen, die Grüße meiner Oma zu entziffern. Mein Vater führte das auf die eigenwillige persönliche Handschrift zurück und half mir, den Text zu erfassen. Sehr viel später während meines Germanistik-Studiums habe ich dann begriffen, dass meine Oma in der Schule noch die deutsche Kurrentschrift gelernt und sich erst ab 1911 mit Einführung der Sütterlin-Schrift eine individuelle Mischung beider Schriften angeeignet hatte.
Bei meiner Suche nach persönlichen Dokumenten mit deutscher Schrift bin ich in einem alten Familienstammbuch auf die nachfolgenden Eintragungen gestoßen. Ich finde, es sah weder schön noch leserlich aus.

Foto: Cornelia Kutter

Schönschrift will gelernt sein.
Nach meiner Einschulung erlernten wir zunächst die Schrift in Druckbuchstaben.  Bald darauf mussten wir dann die lateinischen Buchstaben in Schreibschrift lernen. Aber eigentlich war es nicht nur Schreibschrift, sondern Schönschrift. Unsere Hefte hatten für jede Zeile drei parallele Linien, denn die Ober- und Unterlängen der Buchstaben mussten akkurat und gleichmäßig ausfallen. In den nächsten Klassen waren die Hefte nur noch einfach liniert. Aber es wurde weiterhin akribisch auf die Ebenmäßigkeit der einzelnen Buchstaben geachtet. Bei Verfehlungen gab es sofort einen Tadel. Außerdem wurde die Handschrift in den Zeugnissen separat benotet. Glücklicherweise war meine Schrift ziemlich gut.

Überhaupt wurde in der Schule auch weiterhin alles per Hand geschrieben. Erst im Studium wurden Texte auch schon mal per Schreibmaschine erfasst. Für Prüfungsarbeiten war das eine spezielle Herausforderung, denn jeder Tippfehler blieb auch nach Verwendung der Löschflüssigkeit Tipp-Ex sichtbar.

Alles ist im Wandel, auch die Handschrift.
Auf dem Gymnasium wollten die Lehrer die Arbeiten von uns Schülern nur noch lesen können, auf Schönschrift wurde dabei nicht mehr besonders geachtet. Unsere Schrift veränderte sich individuell, je mehr und je schneller wir geschrieben haben. Überhaupt wurde sehr viel geschrieben. Wohin wir in den Ferien auch gefahren sind, handgeschriebene Postkarten wurden in Massen von jedem Ort verschickt. Und dann war da das ganz wichtige Poesiealbum, in das sich nur die Familie, ausgewählte Mitschülerinnen, Freundinnen und Lehrer verewigen durften. So ein Album war voller Sinnsprüche, die zum Teil mit eingeklebten Bildchen oder Selbstgemaltem verziert wurden.

Foto: Cornelia Kutter

Das Schreiben – ein fester Platz im Leben eines Teenagers.
Uns Mädchen war das Tagebuch ganz besonders wichtig, dem wir tag-genau alle Erlebnisse, Empfindungen und Eindrücke anvertrauten. Das war ein festes Ritual. Und mit dem Erlernen von Fremdsprachen kam die Zeit der Brieffreundschaften. Ich hatte eine englische Brieffreundin in Leeds und später noch eine Französin in Angoulême. Wir schrieben uns jede Woche Briefe, ich in Englisch oder Französisch, die Brieffreundinnen in ihrer jeweiligen Muttersprache, hin und wieder auch in Deutsch. Es wurde über alles ausführlich berichtet, was wir so in der Woche erlebt hatten, sei es der Ärger mit Geschwistern, das Spielen mit dem Hund oder die gebrochene Hand eines Cousins.

Vom Lesen zum Schreiben.
Im Unterricht wurden schon mal kleine Zettel mit liebevollen Reimen weitergereicht, die wir vorher irgendwo gelesen hatten. Später habe ich selbst kleine Gedichte verfasst. Dazu hat mich vor allem die Lektüre von Eugen Roth inspiriert. Ich liebe bis heute seine humorvolle und pointierte Art des Schreibens, wie zum Beispiel folgendes Gedicht widerspiegelt.

„Einfache Sache (Eugen Roth)
Ein Mensch drückt gegen eine Türe,
wild stemmt er sich, dass sie sich rühre!
Die schwere Türe, erzgegossen,
bleibt unberührt und fest verschlossen.
Ein Unmensch, sonst gewiss nicht klug,
versuchts ganz einfach jetzt mit Zug.
Und schau! (der Mensch steht ganz betroffen)
Schon ist die schwere Türe offen!“

Und je mehr ich mich mit Literatur befasst habe, umso mehr wuchs das Bedürfnis, selbst zu schreiben. Da mein Vater Journalist war, spielten wohl auch meine Gene dabei eine Rolle.

Schreiben kann so einfach sein.
Wenn ich meine beiden Enkelkinder so betrachte, stelle ich fest, dass auch sie sehr viel schriftlich kommunizieren. Sie schreiben allerdings nur noch ganz selten per Hand, also höchstens eine Geburtstagskarte oder den Eintrag ins Freundschaftsbuch der Klassenkameraden und Freunde. Das ist so eine Art Nachfolger vom Poesiealbum. Jedoch beschränken sich solche Einträge auf das Wesentliche.

Foto: Cornelia Kutter

Bei Mädchen gestaltet sich das häufig etwas ausführlicher, wie zum Beispiel:
„Für meine beste Freundin Lisa. Ich bin immer für dich da. Deine Freundin Laura“.
Bei Jungen reicht auch schon mal ein Satz, wie dieser:
„Für Marie, viele Grüße von Jacob“.
Allenfalls wird noch der Ort und das Datum hinzugefügt.

Smileys – die neuen Schriftzeichen?
Die heutige Jugend leidet permanent unter Zeitmangel. So müssen sich die Texte in den Handy-Chats mit Freunden ganz kurz und knapp erfassen lassen. Was kann da hilfreicher sein, als ein paar Smileys oder Emojis. Jeder einzelne ist selbsterklärend, man kann also auf komplette Sätze gut und gerne verzichten. Und wenn es doch mal nicht ganz ohne Worte geht, so wird eben Jugendsprache oder Netzjargon benutzt, beispielsweise:

Bre – für Kumpel
sus – für verdächtig, zwielichtig
afaik – (as far as I know) soweit ich weiß
lol – (lots of luck) viel Glück
screenitus –zu lange am Bildschirm gesessen


Anregung zum Schreiben.
Seit meine Enkelkinder die „Gregs Tagebuch“- Bände von Jeff Kinney geradezu verschlingen, haben sie selbst schon mit dem Verfassen von Texten angefangen. Da wird ein beeindruckendes Erlebnis beschrieben, eine kleine Erzählung zu einer Fantasie-Figur verfasst oder ein paar Zeilen zusammengereimt. Das alles wird heutzutage natürlich nicht mehr per Hand, sondern auf dem Laptop geschrieben. Das hat den Vorteil, dass Rechtschreibfehler vom gespeicherten Korrekturprogramm markiert werden und so gleich korrigiert werden können. Ein ganz anderer Grund zum Schreiben war schon immer unser Mitteilungsbedürfnis. Und nicht nur die Kinder schreiben sich Nachrichten, auch ich tausche mich mit der Familie und Freunden über Messenger-Apps aus. Geschäftliche Briefe oder eben Online-Beiträge wie diesen, schreibe ich selbstredend ebenfalls nur noch elektronisch. Glückwunschkarten oder sehr persönliche Schreiben verfasse ich jedoch noch immer per Hand. Das finde ich angemessener, und so komme ich auch nicht ganz aus der Übung.

Es geht auch anders.
Letztendlich gibt es aber noch ein wunderbares Kommunikationsmittel – das Telefon, mit dem man neben spielen, chatten, recherchieren, bestellen oder Reisen buchen tatsächlich auch noch telefonieren kann. Man bekommt sofort eine Antwort, Verabredungen werden direkt verbindlich getroffen und einfach reden und zuhören kann sehr inspirierend sein.   
Schreiben ist viel, aber manchmal nicht alles.

  
Quellen und weiterführende Links:
https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BCtterlinschrift
https://www.pinterest.de/pin/288230444876203289/
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Abk%C3%BCrzungen_(Netzjargon)
https://www.allesprachen.at/blog/jugendsprache/



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