Keine Angst vor dem weißen Blatt

von Ute Lenke

Kürzlich tauschte ich mit einem Freund Jugenderinnerungen aus. Der Anlass war ein Foto seiner Großnichten, die zur Feier des Übergangs in die Oberstufe ihrer Schule an ihren neuen Schreibtischen sitzend fotografiert worden waren.

Der eine Schreibtisch, ein älteres Modell aus Edelholz, der andere weiß mit Glasplatte und selbst gebaut. Interessant und für uns beide Alte der eigentliche Diskussionsgegenstand war jedoch, was sich auf den Möbeln befand: Jedes Mädchen hatte einen Laptop und einen 2. Monitor, Maus und Tastatur, auch Smartphone bzw. Tablett. Auch ein Becher mit Stiften war da – kein Papier, Hefte, Notizblock oder Bücher. Nun gut, das Schuljahr hatte gerade angefangen und die Arbeit kommt dann wohl noch und mit ihr die kreative Unordnung, die einen Schreibtisch – so wie jedenfalls meinen – so persönlich macht.

Was hatten wir beiden Alten uns da zu erzählen: Als wir 16/17 waren hatten wir kaum mehr als ein weißes Blatt Papier, teure Schreibhefte und einen Kugelschreiber (der meist furchtbar kleckste). Schulbücher waren Mangelware, mein Freund hatte zu oft Wohnort und Schulen gewechselt – Bücher zu kaufen lohnte nicht; meine Eltern erwarteten zwar Bildung, aber Geld für Schulbücher: Fehlanzeige. Jedes Schuljahr begann mit Ehekrach und Heulen; ich hatte eine Liste mit anzuschaffenden Büchern aus der Schule mitgebracht, mein Vater weigerte sich zu zahlen: Er hatte sein Abitur auf einer katholischen Privatschule gebaut, dort stellte man wohl die notwendigen Bücher zur Verfügung oder brauchte vielleicht auch nur die Bibel?

Und die übliche Frage alter Leute zum Schluss: hat es uns geschadet? Nur Papier und Stift? Und die Angst vor dem unschuldigen weißen Blatt, das nicht bekleckst und möglichst nur mit klugen Gedanken und richtig gelösten Rechenaufgaben beschrieben werden durfte? Jeden Irrtum, jeden Fehler zeigte dieses grausame weiße Blatt gnadenlos. Nein, der Schaden hielt sich in Grenzen: Wir lernten, was Konzentration ist und auch, so manche Arbeit noch einmal zu machen, denn „Ordnung und Fleiß“ wurden benotet.

Ich gestehe, auch heute noch sitze ich oft ratlos und mit Scheu vor dem weißen Blatt vor dem Bildschirm der Textverarbeitung, aber wenn schon: Ein Tastendruck macht jeden Fehler, jedes falsche Wort ungeschehen, und darum schreibe ich jetzt beherzt drauflos.